Glücklicherweise schien sich kein Fahrzeug oder Fußgänger in dieselbe Richtung zu bewegen wie er. Er überlegte, wie er sicherstellen konnte, dass ihm niemand folgte, um seinen Wohnort nicht zu verraten. Aber wahrscheinlich kannten sie ihn längst: Er wohnte schon seit zweiundzwanzig Jahren im gleichen Haus. Er hatte das Glück gehabt, gleich nach seiner Hochzeit für kleines Geld ein Häuschen kaufen zu können – sechs Jahre nach dem schweren Erdbeben von 1985, das den begrünten, baumreichen Stadtteil Condesa ziemlich verwüstet hatte. Wenn das alte Haus schon einem Beben der Stärke 8,1 auf der Richterskala getrotzt hatte, so sein Gedanke, dann würde es auch allem anderen standhalten, wie der Kinderschar, die er in die Welt zu setzen gedachte, und dem unbändigen Charakter der Frau, die er bewunderte und liebte. Zwei Jahrzehnte später hatten sie gerade mal einen einzigen Sohn, doch das Viertel hatte sich inzwischen zum Greenwich Village von Mexiko-Stadt gemausert, sodass das Häuschen inzwischen mehr als eine Million Dollar wert war. Aber das war völlig unerheblich, denn Mario und Olga würden ihr Paradies, in das sie ihr grünes Heim an der Glorieta Popocatépetl verwandelt hatten, um nichts in der Welt verkaufen.
»Vidal«, rief er seinem Sohn von der Haustür aus zu, »kannst du mal gucken, was in den sozialen Netzwerken so über den Fall Dosantos kursiert und ob es irgendwas Neues gibt?«
Mit seinen zwanzig Jahren schien sich Vidal nicht wirklich darüber im Klaren zu sein, dass er längst volljährig war. Er hatte keinen konkreten Plan, was er im Leben machen wollte, und scheinbar auch keine Eile, es herauszufinden, aber wenn es um Computer und das Internet ging, machte ihm so leicht keiner was vor – das glaubte zumindest sein Vater.
»Schau mal nach, ob Salazar mit der Sache in Zusammenhang gebracht wird«, bat er ihn.
Mario war mit den sozialen Netzwerken ausreichend vertraut, um zu wissen, dass Nachrichten dort zu einem regelrechten Gewitter anwachsen oder aber unbemerkt in der digitalen Informationsflut versinken konnten.
»Das Hashtag #SalazarDosantos ist das Trending Topic auf Twitter in Mexiko«, teilte Vidal ihm lakonisch mit.
»Und was heißt das genau?«
»Dass mehrere Tausend Leute in den letzten Stunden etwas zu dem Thema getwittert haben.«
»Zum Beispiel?«
»›Arme Pamela, erst ermordet, dann noch des schlechten Geschmacks beschuldigt. Salazar? Igitt.‹ Oder: ›Ein schwanzgesteuerter Mörder, Salazar, wie er leibt und lebt.‹ Oder hier: ›Hat ihm denn keiner gesagt, dass man sich auch einfach trennen kann? Warum gleich umbringen?‹«
Die Hoffnung, das Thema würde einfach in der Versenkung verschwinden, konnte man also begraben, dachte Mario, während sein Sohn schon wieder mit schwindelerregender Geschwindigkeit tippte.
»Hallo, Crespo, was machst du denn schon hier?«, fragte Olga und gesellte sich zu ihnen.
Mario hatte noch nie verstanden, warum ihn seine Frau immer bei seinem Nachnamen nannte, aber sie tat es so wie andere Frauen »Schatz« oder »Liebling« sagten, liebevoll und auf charmante Weise besitzergreifend.
»Ich habe beschlossen, heute nicht zur Uni zu fahren, ich habe so viele Examensarbeiten zu korrigieren«, log Mario, um sie nicht mit Tomás’ Angelegenheiten zu beunruhigen.
»Sie bauschen das Thema Dosantos-Salazar künstlich auf«, ereiferte sich Vidal. »Die meisten Tweets stammen von Avataren, die mit der politischen Linken zu tun haben. Na, so was! Hier ist die Rede von einem Zeitungsartikel, den Onkel Tomás geschrieben hat. Bist du deshalb an der Sache dran?«
»Was ist los, Crespo?«, schaltete sich Olga ein. Sie interessierte sich nicht sonderlich für Politik, aber wenn die ermordete Schauspielerin, der furchterregende Salazar und der allgegenwärtige Tomás in ein und demselben Satz vorkamen, schrillten bei ihr die Alarmglocken.
Mario stieß einen langen Seufzer aus. Er bat sie, sich zu setzen, und erzählte ihr alles, was er wusste.
»Heilige Mutter Gottes, misch dich da bloß nicht ein. Lass Tomás seine Probleme ausnahmsweise mal alleine regeln.«
Mario starrte vor sich hin, als hätte er sie gar nicht gehört. Er war an dem »Heilige Mutter Gottes« hängen geblieben, eine Wortwahl, die für seine atheistische Ehefrau äußerst ungewöhnlich war. Er verband damit eher einen Fußballkommentator im Fernsehen, der seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte, wenn ein Spieler mit seinem Schuss das Tor mal wieder meterweit verfehlte: »Heilige Mutter Gottes, Mújica, du musst ja kein Messi sein, ziel einfach nur auf den verdammten Kasten!«
»Crespo, ich rede mit dir. An erster Stelle steht deine Familie, dein Sohn. Du darfst ihn keiner solchen Gefahr aussetzen.«
»Bitte, Olga, mach dir keine Sorgen! Morgen ist das Thema schon wieder vergessen, da redet keiner mehr über Tomás.«
»Ach übrigens, Papa, vorhin hat jemand aus dem Büro von Tante Amelia angerufen. Ich soll dir ausrichten, es sei wichtig.«
Olga strafte Mario mit einem vorwurfsvollen Blick. Wenn sich die Blauen in diese Sache einmischten, konnte keine Macht der Welt ihren Mann zurückhalten. Für sie gab es nur ihn in ihrem Leben, während ein Teil von ihm immer noch in einem Paralleluniversum lebte. Was für die anderen drei eine Kindheitsepisode war, hatte für Mario nie aufgehört. Manchmal fragte sich Olga, ob der Mario, den sie kannte, der Ehemann, Familienvater und Privatdozent, der echte war oder nur eine Facette von dem Mario, der immer noch in der Welt einer verschworenen Gemeinschaft lebte, die nur in seinem Kopf existierte.
»Ich muss jetzt los. Aber ich verspreche dir, alles wird gut«, versicherte er. »Vidal, beobachte die Entwicklung im Netz«, sagte er im Hinausgehen und hatte nicht die geringste Ahnung, was er mit diesen Worten anrichten würde.
Eine halbe Stunde lang irrte er durch die Straßen auf der Suche nach einer öffentlichen Telefonzelle, von der aus er Amelia anrufen konnte. Dabei wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass die flächendeckende Verbreitung des Mobiltelefons die Münzfernsprecher zu einem Anachronismus hatten werden lassen. Schließlich fand er ein öffentliches Telefon im Kassenbereich eines Supermarkts, aber er musste feststellen, dass der Apparat keine Münzen nahm, sondern nur Telefonkarten.
Mario ging zu einer der Kassen, wo ihm eine schlecht gelaunte Frau mit eisiger Stimme mitteilte, dass sie keine Telefonkarten verkauften. Ein Namensschild über der geschwellten Brust verkündete: »Margarita.«
Frozen Margarita , dachte Mario. Den Spitznamen hatte Amelia damals einer gleichnamigen Lehrerin gegeben, die, immer wenn im Biologieunterricht eine Frage zu den Fortpflanzungsorganen gestellt wurde, zum Eisblock erstarrt war.
Es kostete ihn weitere zehn Minuten, einen Kiosk zu finden, der Telefonkarten verkaufte. Mit der Karte in der Hand kehrte er in den Supermarkt zurück. Der spöttische Blick von Margarita, die mit den Augen das Handy fixierte, das er in einer Gürteltasche trug, entging ihm nicht, er unterstellte stillschweigend: »Armer Teufel, kannst dir wohl nicht mal ein neues Guthaben für dein Handy leisten.« Blöde Kuh , dachte Mario.
Fünf Minuten und zwei Anrufe später war er endlich mit Amelia verbunden.
»Wie geht es Tomás?«, fragte sie als Erstes. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja, ich habe ihn vor ungefähr zwei Stunden gesehen. Er ist besorgt. Er hatte keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten er steckt, bis ich ihn heute Morgen aus dem Bett geklingelt und über den Skandal informiert habe.«
Mario fühlte sich erleichtert. Mit Amelia darüber zu sprechen, machte die Sache zu einer gemeinsamen, die nicht nur auf ihm, sondern auf allen Blauen lastete.
»Wir wissen nicht, was wir machen sollen«, gestand Mario. »Ich habe Tomás davon überzeugt, dass wir zuerst Jaime und dich kontaktieren und die Situation gemeinsam analysieren.«
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