1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 An einer Wand saß sogar noch der Teddybär, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Auf dem kleinen Felsen neben ihrem Schlafplatz lag unter einer Staubschicht ein Stapel Bücher. Menschenbücher. Ebenfalls Geschenke ihres Vaters. Niemand hatte es gewagt, sie ihr wegzunehmen. Das hätte ihre Mutter nicht zugelassen. Warum hatte Aruni sie damals nicht mitgenommen? Nein, sie hatte alles so lassen wollen, wie es war. Wollte nichts in das neue Leben mitnehmen. Nur ein einziges Buch hatte sie nicht hier lassen können. Ein Notizbuch ihres Vaters, in welches er Gedichte für sie geschrieben hatte. Das Buch lag jetzt einige Kilometer über ihrem Kopf in ihrer Londoner Wohnung. Aruni seufzte.
Sie sollte sich wirklich waschen. Nicht für die anderen, sondern für sich. An der einen Wand waren vier Türen, die zu einer Art Kleiderschrank gehörten. Im zweiten Segment war der Zugang zu ihrer Badehöhle. Aruni stand auf, löste den Gürtel ihres Kimonos und ging zum Schrank. Auch hinter dieser Tür hatte sich nichts verändert. Nichts hatte sich verändert. Doch auch hier lag eine dünne Staubschicht auf der Duschwanne, dem Steinregal mit den Handtüchern und dem Fußboden. Aruni musste niesen.
Sie ließ dampfendes Wasser ins Waschbecken laufen und warf ihren Kimono hinein. Er stank erbärmlich nach Abwasser, sie musste viel Seife und viel Wasser nehmen, bis sie den Geruch einigermaßen ausgewaschen hatte. Dann hängte sie ihn über die heißen Rohre, die an der Wand entlang liefen. Sie selbst stieg in die Dusche und schloss die Kristalltür hinter sich. Das heiße Wasser spülte den Dreck weg, aber den Kummer nicht. Irgendwo über ihr, an der Oberfläche, war Ilvio. Hoffentlich war er nicht schwer verletzt. Und hoffentlich würde er ihr nicht folgen. Die Dämonen würden ihn in Stücke reißen. Was, wenn sie ihn nie wiedersehen würde? Arunis Augen brannten. Ihre Tränen mischten sich mit dem Wasser, das aus der Brause über ihren Körper rann. Sie schlang die Arme um ihre Brust und ließ sich an der glatten Wand nach unten sinken. Das Wasser prasselte hart auf ihren Kopf. Aruni legte die Stirn auf ihre Knie und weinte still in sich hinein. Dämonen weinten nicht, dachte sie bitter. Aber ich bin kein Dämon.
Unmittelbar neben sich hörte Ilvio plötzlich eine Stimme. Er fuhr herum. „Suchst du mich?“, fragte Ash.
Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. „Ja, verdammt. Kannst du vorher auch mal was sagen? Du bist wohl nicht sehr gesprächig, wie?“
Ash brachte es irgendwie fertig, gleichzeitig zu schnurren und zu reden: „Komm, da vorne ist ein Eingang, durch den auch du passen wirst.“
Ilvio folgte Ashs Stimme. Der Boden war feucht unter Ilvios Fußsohlen. Ash glitt neben ihm durch die beinahe vollständige Dunkelheit, fast geräuschlos und ohne je irgendwo anzustoßen. Nur Ilvio unterdrückte alle paar Schritte ein Fluchen, weil er gegen etwas gestoßen war.
„Woher kennst du den Weg? Warst du schon mal hier unten?“, fragte er flüsternd.
„Ja, natürlich. Ich habe bei Aruni gelebt, ihr Vater hat mich ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt.“
„Und woher kamst du?“, fragte Ilvio weiter.
Ash schwieg eine Weile. „Weißt du, Katzen wie ich, oder besser gesagt, wir Wandler, bleiben meistens gerne alleine. Aber ich mag die Menschen und noch mehr mag ich Wesen der Unterwelt. Als Arunis Mutter in der Stadt auftauchte, hat sie mich unbeabsichtigt zu Jack geführt. Sie war nicht lange dort, ein Wochenende, danach bin ich ihm zugelaufen, wenn du so willst. Ich liebe es, gebrochene Herzen zu flicken.“
„Wo ist Arunis Vater jetzt? Weiß er von den Dämonen?“
„Na, das wird ihm wohl kaum entgangen sein. Malenka hat Hörner und eine Dämonenhaut. Mehr noch als Aruni.“
„Wer ist Malenka?“
„Arunis Mutter. Malenka, die Dunkle. Du kannst dich übrigens schon mal drauf gefasst machen, dass wir gleich in der Hölle landen. Ich bin gespannt, ob du sie dir so vorgestellt hast.“ Ash lachte leise und blieb stehen.
„Wir müssen da runter, soll ich vorgehen?“ Sie deutete auf eine Stelle im Boden vor ihnen, die Ilvio nur mit Mühe erkennen konnte. Aber darunter schimmerte es leicht rötlich.
„Du hast nicht zufällig ein Licht für mich?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Leider nein. Aber gleich wird es heller. Halt dich gut fest und taste dich langsam voran. Es ist sehr steil und ein gutes Stück Höhe. Wir müssen klettern.“ Mit diesen Worten verschwand Ash in dem Loch.
Ilvio atmete geräuschvoll aus und ließ sich auf Hände und Knie herab. Was würde ihn unten erwarten? Er würde mit allem fertig werden können, solange er dadurch Aruni zurückholen konnte. Er beeilte sich und kletterte Ash hinterher. Als seine Füße keine weitere Stufe ertasten konnten, streckte er die Hände aus und stieß auf einer Seite an Stein, mit der linken Hand an etwas Warmes. Schnell zog er die Hand zurück.
„Das bin nur ich“, flüsterte Ash. Er spürte eine Berührung an der Hand. Sie nahm seine Hand und führte ihn. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, die sich auch schon in die Ecken zurückzog. Ein Licht am Ende des Tunnels schimmerte rot und flackerte wütend in den Gang hinein. Ash legte ihre Hand auf Ilvios Arm und bedeutete ihm, leise zu sein. Beim Näherkommen hörten sie Zischen und Prasseln. Ein Feuer, dachte Ilvio. Dann erklangen Schreie. Ilvios Nackenhaare stellten sich auf. „Oh Gott, foltern sie da gerade jemanden?“
Aber im nächsten Moment erklang ein einzelner Schrei und es blieb kein Zweifel daran, dass diejenige, die schrie, keine Schmerzen hatte. Gleichzeitig hörten sie einen Mann stöhnen. Ashs Augen leuchteten in der Dunkelheit auf, als sie zu Ilvio sah. „Hört sich an, als wäre jemand abgelenkt“, flüsterte sie. „Komm.“
Sie schoben sich an den Rand der Öffnung und spähten in den Raum. Entlang der Wände züngelten Flammen empor. Zur einen Seite des Eingangs erkannte Ilvio im Feuer drei Gestalten mit dunkelroter, schwarzer und fast goldener Haut. Und Hörnern. Der Mann lag auf dem Boden und hatte die Augen geschlossen. Die Frauen waren über ihn gebeugt. Ilvio schluckte. Er war nicht schüchtern, aber seine eigenen Leute waren eindeutig zurückhaltender.
Überall in den Wänden hinter den Flammen waren weitere Tunneleingänge. Ash deutete zu einem Tunnel genau gegenüber. Aber wie sollten sie unbemerkt an den drei Dämonen vorbeikommen? Ilvio drehte sich nach Ash um, aber sie war nicht mehr da. Verwirrt blickte er zurück in den Gang, rief leise ihren Namen und sah dann wieder in den Raum hinein. Da lief eine kleine, schwarze Katze ganz dicht an den Flammen entlang, und keiner der drei Dämonen bemerkte sie.
Sie verschwand im Gang ganz rechts. Ilvio warf einen letzten Blick auf die liebestollen Gestalten und wagte ein paar Schritte in den riesigen Raum aus schwarzem Stein. Er lief geduckt und blieb nah an den Flammen. Fast hatte er den Gang erreicht, in dem Ash auf ihn wartete. Aber dann hörte er einen anderen Schrei. Dieser hier klang ganz anders als die Schreie der drei Dämonen. Es klang ängstlich.
Ilvio war sich ziemlich sicher, das er Aruni hörte. Der Schrei kam aus einem anderen Gang. Sie rief um Hilfe. Aus dem Augenwinkel sah Ilvio eine Bewegung hinter sich. Eine der beiden Frauen war durch die Flammen gesprungen und landete auf Händen und Füßen auf dem glatten Boden. Ihre Haut schimmerte dunkelrot und ihre Hörner waren so schwarz, dass sie alles Licht verschlangen. Ihre Augen blitzten wütend, als sie ihn sah. Sie rief den anderen beiden etwas zu. Der Mann erhob sich über die Flammen und starrte genau zu Ilvio.
Zitternd drückte sich Aruni in die hinterste Ecke der Dusche. Das Wasser tropfte aus ihrem Haar und von ihren Hörnern auf die schwarzen Bodenkacheln. Ein großer Schatten ragte drohend über ihr auf. Vor der Dusche stand ein Dämon, zwei Köpfe größer als Lierd, mit langen geschwungenen Hörnern wie aus poliertem schwarzen Marmor. Die Hörner waren beinahe so dick wie seine Oberarme – und die waren sehr muskulös. Er war nackt. Seine Blicke drangen in jede verborgene Stelle ihres Körpers. Aruni hatte keinen Zweifel, was er von ihr wollte. Sie würde sich keinen Millimeter aus dieser Dusche bewegen, und auf keinen Fall würde sie aufstehen. Sie zog Knie und Arme so eng wie möglich an ihren Körper und funkelte den fremden Dämon an.
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