„Feenfuchs
und
Feuerkuss“
Lariane Westermann
©2013 Lara Kalenborn & Juliane Körner (Hrsg.)
Alle Rechte vorbehalten.
Hinter dem Namen Lariane Westermann stehen die Autorinnen Lara Kalenborn und Juliane Körner. Ihre Freundschaft begann vor über 15 Jahren an einem Essener Reitverein. Dort teilten sie zunächst ihre Freizeit auf dem Rücken der Pferde und standen schließlich lange Zeit zusammen in der Reitbahn, um Kindern das Reiten beizubringen.
Luisa trat fester in die Pedale ihres Hollandrades. Der kalte Märzwind zerzauste ihre schwarzen Locken, fuhr in ihre Jackenärmel und brachte sie zum Frösteln. Morgentau lag auf den Feldern, doch sie hatte keinen Blick übrig für die malerische Landschaft, obwohl sie eine Seltenheit im Ruhrgebiet war. Luisa war in Eile. Sie wollte Ophelia noch unbedingt vor der Schule sehen, aber das Lichthang Gestüt lag weiter entfernt, als sie es in Erinnerung hatte.
Luisa versuchte einen Blick auf die Uhr zu werfen, doch der schmale Feldweg war so holprig, dass ihr altes Rad immer wieder ins Schlingern geriet.
Ich brauche ein Mountainbike, wenn ich Ophelia nicht schnell wieder zum Valentinshof holen darf , dachte Luisa und erschauerte bei der Vorstellung, dass ihr Pferd für längere Zeit an dem neuen Stall stehen würde, wo Luisa sie nicht pflegen oder reiten durfte.
Ihre Mutter, resolute Anwältin für Umweltrecht, hatte wie üblich nicht lange gefackelt und ihr Springpferd vor zwei Tagen wegen Luisas schlechten Noten zum Lichthang Gestüt bringen lassen. Dort würde es versorgt und von einem der Bereiter trainiert, bis Luisa nicht mehr versetzungsgefährdet war. Dass ihre Stute sehr sensibel war, interessierte ihre Mutter Eva bei ihrer pädagogischen Maßnahme wenig. Luisa hatte vergeblich versucht ihr klar zu machen, dass Ophelia sehr anspruchsvoll im Umgang war und die Umstellung nur schwer verkraften würde.
„Wenn sie wieder krank wird, Mama, bist du schuld“, zischte Luisa und wich in letzter Sekunde einem Schlagloch aus.
Sie versuchte ihre Entrüstung für einen Moment ruhen zu lassen und ihre hellbraunen Augen konzentriert auf den Weg gerichtet zu halten, um nicht zu stürzen.
Dann hatte sie endlich die ersten Weiden des Gestüts und eine geteerte Straße erreicht.
Langsam fuhr sie auf das Privatgrundstück und betete, dass sie nicht erwischt wurde. Ihre Mutter würde kochen vor Wut. Luisa versteckte ihr Rad hinter einer Hecke am Hängerparkplatz und schlich unbemerkt durch das schmiedeeiserne Tor. Um diese Zeit lag der Hof noch still vor ihr. Da sie vor Kurzem das Neujahrsturnier des Gestüts besucht hatte, wusste sie ungefähr, wo die Berittpferde untergebracht waren. Sie hastete die Stallgasse entlang und hielt Ausschau nach ihrer Fuchsstute. Pferdeköpfe streckten sich ihr interessiert entgegen, doch Ophelias war nicht dabei. Am Ende der Stallgasse befand sich noch eine Box im Halbdunkeln.
„Ophelia!“, wisperte Luisa aufgeregt und trat vor die Box. Endlich hatte sie ihr Pferd entdeckt.
Die hübsche Stute stand in der Ecke und zuckte erschrocken zusammen, als Luisa die Boxentür öffnete. Ophelia war gestern nach dem Reiten nicht geputzt worden, ihre Sattellage, der Hals und der Kopf waren von getrocknetem Schweiß ganz stumpf.
„Was haben die mit dir gemacht, mein Mädchen?“, flüsterte Luisa und betrat die Box.
Zu ihrem Entsetzen wich Ophelia vor ihr zurück. Mit gesenktem Blick murmelte Luisa: „Ich bin’s doch, Ophelia. Keine Angst. Ich bin’s. Ganz ruhig, mein Feenfuchs.“
Tränen drohten ihr in die Augen zu steigen, aber dann ließ sich ihre Stute von ihr berühren.
„Oh, Ophelia. Es tut mir so leid.“ Luisa strich über das verklebte Fell. „Ich bringe dich zurück nach Hause. So schnell ich kann …“
„Kannst du mir vielleicht verraten, was du hier zu suchen hast?“
Luisa drehte sich erschrocken zu der zornigen Stimme um. Vor der offenen Boxentür stand ein alter Mann in Arbeitskleidung mit einer Ration Heu in den Armen.
„Können Sie mir vielleicht verraten, warum mein Pferd so schreckhaft ist? Und warum wurde es verschwitzt in die Box gestellt?“, entgegnete Luisa.
Der Mann kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und wirkte trotz seines Alters plötzlich sehr bedrohlich. Luisa suchte Halt an Ophelias Hals.
„Raus aus der Box, junges Fräulein. Deine Mutter hat dem Chef aufgetragen, dich zu verpfeifen, wenn du hier auftauchst. Also, verschwinde, dann hab ich dich vielleicht nicht gesehen.“
Luisa spürte, dass ihr Kinn zitterte.
Mist , fluchte sie in Gedanken. Sie musste jetzt stark bleiben. Für Ophelia.
„Wissen Sie, bestellen Sie meiner Mutter doch einfach einen schönen Gruß, wenn Sie sie das nächste Mal sehen. Ich lasse mich nicht so schnell verscheuchen.“
Der Alte schüttelte den Kopf. „Keine Diskussion. Jetzt ist Futterzeit und da hat niemand außer mir was im Stall verloren, auch keine freche Göre. Also, ab jetzt!“
Luisa straffte ihre Schultern. „Ich will trotzdem wissen, warum Ophelia nicht geputzt wurde. Wenn man sie schon schweißnass reitet, sollte man sie danach wenigstens anständig versorgen.“
Der Mann warf das Heu unter Ophelias Tränke. Zu Luisas Beruhigung fing ihre Stute langsam an, die grünen, duftenden Halme zu knabbern. Sie kraulte ihr den Widerrist.
„Im Moment ist die Zeit knapp, aber das bisschen Schweiß auf dem Pelz hat noch keinem Pferd geschadet.“ Der Stallmeister deutete mit dem Daumen auf die Tür. „Ab in die Schule mit dir.“
Luisa verließ schweren Herzens die Box. „Ich komme später wieder, Ophelia, keine Sorge.“
Dem Stallmeister warf sie einen strengen Blick zu, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte, und verließ den Stall. Es war schlimm für sie, ihr Pferd zurücklassen zu müssen.
Luisa kam gerade noch rechtzeitig in der Schule, dem Schillergymnasium, an. Sie war immer noch vollkommen aufgelöst. Ihre Mutter ahnte nicht, was sie ihr antat.
Sie hastete über den leeren Vorplatz und schlidderte in der Eingangshalle in niemand Geringeren als ihre Schulleiterin hinein.
„Oh, hallo, Frau Kunze.“ Luisa versuchte ein gewinnendes Lächeln zustande zu bringen.
„Auf den letzten Drücker, Luisa?“, fragte ihre Schulleiterin missbilligend.
„Genau pünktlich“, antwortete sie und presste die Lippen aufeinander.
Frau Kunze zog eine Augenbraue hoch. „Wir haben schon auf dich gewartet.“ Sie deutete auf eine Person im Hintergrund, die Luisa bis dahin gar nicht bemerkt hatte. „Das ist Sam.“
Sam Weston , schoss es Luisa durch den Kopf. Der Junge, der Anfang des Schuljahres auf ihre Schule gekommen war.
„Aus England“, fügte Luisa hinzu und erschrak. Hatte sie das etwa laut gesagt?
„Genau, aus England“, bestätigte Frau Kunze.
Luisa warf Sam einen vorsichtigen Blick zu. Er starrte aus graugrünen Augen auf sie herab. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Stirn. Luisa und ihre Freundinnen beobachteten den Neuen gerne auf dem Schulhof und schlossen Wetten darauf ab, wann sie ihn das erste Mal lächeln sehen würden, denn der Junge aus der zwölften Klasse lächelte nie. Er hob seine markanten Augenbrauen ein Stück und nickte ihr reserviert zu.
„Deine Mutter hat dich im Nachhilfeprogramm unserer Schule angemeldet. Sam ist von nun an dein Pate und wird mit dir bis zu den Osterferien den Lernstoff täglich aufarbeiten. Dann schaffst du die Versetzung in die elfte Klasse bestimmt. Als Muttersprachler kann er dir vor allem in Englisch gut helfen.“
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