„Okay, dann lass uns jetzt mit deinen Englischaufgaben beginnen.“ Sam sah regelrecht begeistert aus.
Luisa bemerkte, dass ihre Augen an seinem Mund hängen geblieben waren, der mit einem verführerischen englischen Akzent so intelligente Dinge sagen konnte. Aber dann riss sie sich von dem Anblick los und sagte: „Das wird jetzt peinlich. Ich bin eine absolute Null in Englisch. Ich würde am liebsten im Boden versinken.“
„No one is born a master“, beruhigte Sam sie.
Luisa blinzelte. Nie zuvor hatten englische Worte so schön in ihren Ohren geklungen. Natürlich liebte sie Lieder von amerikanischen oder britischen Bands, aber ohne Instrumente als Begleitung hatte sie Englisch nie zuvor als angenehm empfunden. Mit Sam könnte sich dies aber vielleicht in Zukunft ändern.
Eine halbe Stunde später hatte Luisa ein Pensum an Englisch-Hausaufgaben erledigt, für das sie sonst Stunden gebraucht hätte.
„Du solltest Lehrer werden“, meinte sie.
Sam sah sie überrascht an. „Findest du?“
„Ja, absolut. Du bist richtig gut.“
Einer seiner Mundwinkel hob sich schwach. Das musste Luisa sich merken, Komplimente schienen ihm zu gefallen. Oder zumindest belustigten sie ihn. Wenn sie also sein schönes Lächeln noch einmal sehen wollte, musste sie sich nicht wieder Stroh ins Haar stecken wie heute Morgen. Vielleicht reichte das ein oder andere Kompliment auch aus. Und wenn sie mal ehrlich war, Sam Weston bot genügend Gelegenheiten, um Lob auszusprechen. Allein in diesem Moment hätte sie gerne etwas Nettes über seine graugrünen Augen gesagt, die sie aufmerksam musterten.
„Ich will eher was im Kulturbereich machen. Oder Richtung BWL“, wandte Sam nun ein.
„Ich würde gerne Tierärztin werden.“
„Dann musst du aber dringend bessere Noten schreiben.“
Luisa machte große Augen. Aber wo er Recht hatte … „Ist ja schon in Planung.“
„Du wirst das auch schaffen. Bist ja nicht auf den Kopf gefallen. Höchstens ein bisschen unkonzentriert.“
Luisa verzog das Gesicht. Bis heute war sie sich nie unkonzentriert vorgekommen, aber Sam war einfach eine Ablenkung der besonderen Art. Sein Wuschelkopf, seine Stimme, sein Mund … Luisa erhob sich schnell, bevor ihre Schwärmereien noch auffielen.
„Wie hat es dich eigentlich nach Deutschland verschlagen?“ Luisa stellte sich vor, wie Jeska ihr bei dieser Frage zujubelte, weil sie die Neugierde ihrer Freundin etwas stillen würde.
„Mein Vater hat hier einen Job gefunden. Er ist Übersetzer und arbeitet jetzt für einen Energiekonzern in der PR-Abteilung.“
„Also nicht das MI6“, murmelte Luisa und musste lachen, als sie sich nun Jeskas enttäuschtes Gesicht ausmalte.
„Wie bitte?“
Luisa winkte ab. „Meine Freundin ist Verschwörungstheoretikerin.“
Sam schien nicht ganz folgen zu können. Sie versuchte ihn abzulenken und sagte: „Wenn du willst, zeige ich dir mal die schönen Seiten des Ruhrgebiets.“
Er ging auf das Angebot nicht ein, sondern lächelte nur und Scham durchfuhr Luisa. Hastig fragte sie: „Und was macht deine Mutter?“
Er sah auf die Uhr.
Langweile ich ihn? Plötzlich war ihr die Fragerei sehr peinlich.
„Ich bin zu neugierig“, entschuldigte sie sich. „Du musst nicht antworten.
„Schon okay.“ Sam lehnte sich zurück. Er trug eine Kette mit kleinen, gelblichen Perlen, die wie vom Meerwasser gebleicht aussahen. „Sie ist Erzieherin und konnte in einem Kindergarten anfangen. Meine Großeltern mütterlicherseits leben auch hier.“
„Da hast du es aber gut. Meine Großeltern leben auf Fuerteventura. Ich sehe sie eigentlich nie.“
Sam hob die Augenbrauen. „In England haben wir zusammen mit meiner Oma gewohnt. Sie konnte nicht mitkommen.“ Er sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Vielleicht wollte sie auch nicht.“
„Ist sie jetzt alleine in England?“ Luisa biss sich auf die Zunge. Warum konnte sie nicht aufhören, Sam auszuquetschen?
Sein Kopf fuhr zu ihr herum und es sah aus, als legte sich ein Schleier vor seine Augen.
„Mein Cousin besucht sie jetzt häufiger.“
Luisa fuhr sich vor Verlegenheit durch die Haare und schaute nun ebenfalls auf die Uhr. Die Zeit war um. „Ich glaube, meine Franz-Sachen schaffen wir nicht mehr.“
„Franz-Sachen?“, wiederholte Sam irritiert.
„Französisch“, erklärte Luisa. „Sorry.“
„Ach so. Hast du morgen denn Franz ?“
Luisa lachte auf. „Nein. Erst übermorgen.“
„Dann kann Franz ja noch warten.“
„Du lernst schnell.“ Luisa versuchte sich an einem Augenzwinkern, das in die Hose ging, woraufhin Sam leise lachte.
Natürlich hatte er ein wundervolles Lachen, das ihr fast die Schuhe auszog.
Sie stand auf, warf sich ihre Tasche über die Schulter und ging schon ein paar Schritte auf die Tür zu, damit er ihre Begeisterung nicht sehen konnte.
Zusammen verließen sie das Schülercafé. Sam holte seinen Motorradhelm aus einem der Spinde hervor. Schweigend traten sie auf den Hof, wo sich nur noch wenige Schüler aufhielten. Luisa genoss diesen Moment, in dem Sam Weston mit seinen langen Beinen neben ihr herlief und sein Schatten auf sie fiel.
„Bis morgen dann“, sagte sie am Schultor.
„Bis morgen, Luisa“, antwortete Sam, ging zu den Roller- und Motorradparkplätzen hinüber und setzte sich im Gehen seinen Helm auf.
Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, machte Luisas Knie ganz weich. „Hoffentlich schaffst du dumme Gans es bis nach Hause“, murmelte sie und war überrascht, wie sehr dieser Junge aus England ihr Herz berührte.
Zuhause wurde sie von Stille empfangen. Stille, die ihr sehr ungelegen kam. Denn mit der Stille kamen ihre Gedanken erst richtig in Schwung.
Sam, Ophelia, Sam, Sam, Ophelia … Immer im Kreis. Und weder Molly noch Jess, die sie aus diesem Gedankenchaos hätten retten können, waren zu erreichen. So blieb Luisa nichts anderes übrig, als sich an ihre Deutsch-Hausaufgaben zu setzen.
„Werther kann noch so viele Briefe an Lotte schreiben, ich werde ihn nie verstehen“, murmelte Luisa und legte ihren Kuli aus der Hand. „Geschweige denn, eine vernünftige Analyse zustande bringen.“
Entnervt kippelte sie auf ihrem Stuhl, betrachtete seufzend das Wirrwarr auf ihrem Schreibtisch und blieb dann mit ihrem Blick an dem Bild hängen, das in einem antiken Silberrahmen am Rande des Chaos auf ihrem Schreibtisch stand.
Die Fotografie zeigte Ophelia auf der Weide, kurz nachdem sie auf dem Valentinshof angekommen war. Ihr Fell schimmerte in wundervoll hellen Rottönen, was ihr zusammen mit ihrem filigranen Kopf und den zierlichen Beinen schnell den Spitznamen ‚Feenfuchs‘ eingetragen hatte. Luisa war so froh, dass ihr Vater vor etwas mehr als zwei Jahren endlich zugestimmt hatte, ihr ein Pferd zu kaufen. Bis dahin hatte Luisa eine Reitbeteiligung an einem älteren Wallach auf dem Valentinshof gehabt. Kingston, ein dunkelbrauner Anglo-Araber, hatte sie brav durchs Gelände getragen und mit Luisa geduldig seine Runden durch die Reithalle und über den Springplatz gedreht. Als seine Besitzerin der Liebe wegen nach Berlin zog und ihr Pferd von einem auf den anderen Tag vom Hof abholen ließ, hatte Luisa stundenlang bittere Tränen geweint. Nach zwei trostlosen Wochen war ihr Vater mit ihr zu einem Pferdehändler gefahren, den er noch aus Schulzeiten kannte. Ein Pferd nach dem anderen hatte Luisa an dem Nachmittag ausprobiert, doch der Funke wollte einfach nicht überspringen. Als sie das letzte Pferd zurück in die Stallgasse führte, fiel ihr Blick auf eine hübsche Fuchsstute, die nervös wirkte, aber Luisa irgendwie in ihren Bann zog. Als sie den Händler auf das Pferd ansprach, winkte der direkt ab. Es sei kein Pferd für ein vierzehnjähriges Mädchen, sondern ein Sportpferd. Nach Bitten und Betteln durfte sie die Stute jedoch reiten. Auch wenn sie nicht besonders gut mit der temperamentvollen Ophelia zurechtkam, konnte sie ihren Vater und den Händler davon überzeugen, dass es genau das richtige Pferd für sie sei. Ihr Vater, der ihren Dickkopf nur zu gut kannte, handelte mit seinem alten Schulkollegen einen Freundschaftspreis aus und als Ophelia die Ankaufsuntersuchung überstanden hatte, wurde sie auf den Valentinshof gebracht. In der Nacht davor konnte Luisa kein Auge zu kriegen und malte sich die gemeinsame Zeit mit ihrem neuen Pferd in den schönsten Farben aus.
Читать дальше