Ash kam an und schnurrte um Ilvios Beine. Er streichelte sie und gab ihr einen Shrimp von seiner Pizza. Das Schnurren wurde noch lauter. Ilvio und Aruni mussten lachen. Ash streckte sich und legte ihre Vorderpfoten auf Ilvios Bein, während sie überdeutlich Interesse an dem Pizzateller bekundete.
„Ash, gleich hat Ilvio nur noch eine Margherita. Aber du darfst noch einen von mir haben“, sagte Aruni und warf ihrer Katze den letzten Shrimp zu.
Sie spürte bereits in jeder Faser ihres Körpers, wie die Sonne unterging. Nervös sah sie zur Uhr und zupfte ihren Kimono zurecht.
Genau in dem Moment platzte schon wieder Lierd durch ihre Wohnungstür. Einen Moment hielt er inne und starrte durch die offene Tür in die Küche, dann war er mit wenigen Schritten bei Aruni. „Ihr hättet mir besser gehorcht“, rief er, packte sie unsanft am Arm und riss sie von ihrem Stuhl.
Ilvio sprang auf und warf sich auf Lierd. Der schob ihn mit einer fast achtlosen Handbewegung zur Seite. Etwas fauchte heiß auf, und dann loderten Flammen um Ilvios Kopf. Ilvio prallte rückwärts gegen die Küchenzeile. Lierd warf ihm einen von seinen wütenden Blicken zu. Aruni kreischte auf und wollte zu Ilvio hinrennen. Ash sprang auf den Küchentisch und fauchte.
„Lierd! Lass mich los, er brennt!“, schrie Aruni ihrem Halbbruder ins Gesicht. „Was fällt dir ein, deine Feuerkraft gegen ihn einzusetzen?“
Lierd lachte nur. „Soll er brennen. Er muss doch erfahren, wie heiß es in deiner Gegenwart sein kann!“
Aruni schluchzte. Ilvio rannte zur Spüle und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Es zischte und die Flammen erloschen.
„Ciao, Herr des Meeres. Ich muss deine Freundin mal eben entführen!“, rief Lierd und zog Aruni mit sich aus der Wohnung. „Sorry, ich meinte deine Ex. Ab jetzt.“ Die Tür knallte ins Schloss. Lierd drehte den Schlüssel um und brach ihn ab. „Soll er doch die Fische rufen...“, spottete er und zog Aruni mit sich.
„Lass mich los, verdammt. Lierd, du bist doch mein Bruder! Das kannst du nicht machen!“, zeterte Aruni und schlug nach ihm.
Aber als sie ihren Halbbruder genauer ansah, wurde sie blass. Er war gefährlich nah daran, auszuflippen. Oder, besser gesagt, zu explodieren. Mit einer letzten halbherzigen Abwehrbewegung gab Aruni nach. Da blieb Lierd stehen. Er zog sie vor sich und starrte ihr in die Augen.
„Du hast die Regeln verletzt. Du hast mir nicht gehorcht. Du kannst nicht erwarten, dass ich dir das durchgehen lasse.“ Die rote Farbe in seinen Augen war erloschen, Enttäuschung überwog jetzt die Wut. Sie waren schwarz wie Ruß. Aruni schluckte.
Dann räusperte sie sich. „Hör mal, Lierd. Diese ganze Gehorchen-Sache ist doch so was von antiquiert! Kein Mensch würde so etwas erwarten.“
„Wir sind keine Menschen. Wir sind Dämonen. Für dich gelten unsere Gesetze.“ Mit diesen Worten schien Lierd das Gespräch für beendet zu halten. Er zog sie wieder hinter sich her. Aruni stolperte und fluchte. Als sie in den stillgelegten U-Bahn-Schacht und schließlich ins Abwassersystem kamen, ergab sie sich endgültig in ihr Schicksal und trottete brav neben Lierd her. Es machte einfach keinen Sinn, ihm mit Argumenten zu kommen. Nicht in diesem Zustand, und nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie würde mit ihrer Mutter reden.
Aber zunächst einmal hatte sie ausreichend damit zu tun, den Ratten und dem Unrat auszuweichen, der sich in den alten Rohren verfangen hatte.
„Du hättest mir wenigstens Zeit geben können, mich anzuziehen. Schuhe und so“, fauchte sie ihn an. Aber er hörte nicht hin.
Barfuß tappte Aruni durch das trübe Wasser in dem mannshohen Abwasserkanal. Dann kam die Abzweigung. Aruni knotete den Gürtel ihres Kimonos enger zusammen. Sobald sie fertig war, griff Lierd wieder nach ihrem Arm und stieß sie vor sich auf die Öffnung im Boden zu.
Ilvio hämmerte gegen die Tür, doch der Türknauf ließ sich nicht bewegen, und die Tür gab keinen Millimeter nach. Jemand rief: „Ruhe!“
Ilvio überlegte fieberhaft. Die Tür fiel aus. Was blieb ihm dann? Richtig, die Fenster. Schnell rannte er zu einem Fenster und riss die Gardinen auf. Der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Nur eine flackernde Straßenlaterne erhellte die Straße. Regentropfen prasselten an die Scheibe und rannen am Glas hinunter. Ilvio rüttelte am Fenstergriff. Er war scheinbar etwas verrostet, gab aber nach einigen endlos scheinenden Sekunden doch endlich nach.
Ilvio riss das Fenster auf. Sofort blies ein kalter Wind herein. Der Regen durchnässte in Sekundenschnelle sein Hemd und seine Haare. Er beugte sich hinaus. Der Boden sah verdammt weit weg aus. Es gab nichts da unten, was seinen Fall bremsen würde. Die Regenrinne war viel zu weit weg, die konnte er nicht erreichen, und selbst wenn, hätte sie sein Gewicht vermutlich nicht tragen können. Wut über Arunis Halbbruder brannte in seinem Inneren. Seine Haut leuchtete verräterisch durch den nassen Stoff seines Hemdes. Aber es war niemand auf der Straße, der sich daran stören konnte. Und leider auch niemand, der ihm helfen konnte oder eine Leiter hatte. Vielleicht hing Arunis Leben davon ab, wie schnell er hier weg kam und sie fand. Würde ihr Bruder sie töten? Verdammt, er wusste es nicht. Er wusste nichts über Dämonen. Und selbst, wenn der Bruder es nicht tat, wer wusste, was die Regeln der Dämonen ansonsten vorsahen für solche wie Aruni. Wäre sie eine Verräterin? Ilvio fluchte.
Erneut sah er sich im Zimmer um. Eine Strickleiter aus Bettlaken? Eins lag auf dem Bett. Ilvio rannte zu einem Schrank und suchte nach weiteren Bettlaken. Er fand genau ein Weiteres. Zwei waren etwas zu wenig für eine Leiter. Er fluchte. „Verdammt, verdammt, verdammt.“
„Davon wird es auch nicht besser, Herr der Meere“, tadelte eine eindeutig weibliche Stimme hinter ihm.
Ilvio wirbelte herum.
An der Wand stand eine schlanke, dunkelhäutige Frau. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel und war barfuß.
„Wer bist du?“, fragte Ilvio, als er sich von seinem ersten Schreck erholt hatte.
„Wir kennen uns bereits, Ilvio. Ich bin Ash.“ Die Frau kam ein paar Schritte auf ihn zu und trat in das diffuse Licht der Straßenlampen, das durchs Fenster hereinfiel. Ihr Gang war merkwürdig tänzelnd und lautlos.
„Ash?“, fragte er verblüfft und sah sie sich genauer an. An ihren Augen blieb sein Blick hängen. Ihre Pupillen waren schmal und die Iris goldgelb. „Moment, heißt nicht Arunis Katze so?“
Die Frau lachte leise. Es klang fast wie ein Schnurren. „Ihre Katze, ja. Miau.“
Das Miauen klang verdammt echt.
„Jetzt begreif' ich gar nichts mehr. Du bist Ihre Katze?“ Ilvio ließ sich gegen das Fensterbrett sinken und starrte sie an.
„Katze oder Frau. Aber nein, es muss nicht immer ein ‚oder‘ sein. Ich bin beides. Katze und Frau.“ Sie stand nun ganz dicht vor ihm und starrte ihm in die Augen.
Ilvio blinzelte zuerst. „Wahnsinn“, sagte er.
Ash schnurrte leise. „Aber jetzt sollten wir vielleicht etwas tun, oder nicht?“
Ilvio nickte, drehte sich um und sah erneut aus dem Fenster. Die Straße lag ziemlich tief unten. „Meinst du, ich könnte...“, begann er. Im gleichen Moment sprang ein schwarzer Schatten an ihm vorbei aufs Fensterbrett, um dann geschmeidig auf der Straße zu landen.
„Hast du dich verletzt?“, rief Ilvio zu ihr runter. Die Katzenfrau, die jetzt wieder aussah wie eine gewöhnliche Katze, machte eine Bewegung mit dem Kopf, die aussah wie ein Kopfschütteln. Dann lief sie dicht an der Hauswand entlang und verschwand hinter der Ecke. Ilvio sah ihr nach und kletterte nun selbst auf das Fensterbrett. Ob er das auch schaffen würde? Unverletzt unten ankommen? Er atmete tief durch und versuchte die Entfernung zum Boden zu schätzen. Es war ja nur ein Stockwerk, so schlimm konnte es wohl nicht sein. Da hörte er ein Kratzen an der Tür. Ilvio horchte. Das Geräusch wiederholte sich. Ja, eindeutig ein Kratzen.
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