Das Meer konnte er nicht mehr sehen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Eine Leere in seinem Herzen. Aber er schüttelte den Kopf und ballte seine Hand zu einer Faust. Er würde es schaffen. Mit neuer Musik würde er zurückkehren und es würde ihm besser gehen.
Die ersten Häuser Londons tauchten auf. Ilvio staunte, wie riesig sie hier waren. Ganz anders als in der kleinen verträumten Küstenstadt Lyme Regis. Unzählige Fenster glitzerten in der Sonne. Dahinter sah er spitze Kirchtürme, bunt besprühte Mauern und dicht befahrene Straßen. So viele Autos und rote Busse. Der Zug wurde langsamer und fuhr in eine riesige Halle mit Glasdach, gestützt von weißen Metallstreben.
Viele Menschen warteten dort geduldig auf ihre Bahn. Einige lasen Zeitung, andere unterhielten sich lachend und wieder andere telefonierten. Ilvio vergewisserte sich, dass er das Telefon von Audrey noch hatte, und suchte den Ausgang.
Lautes Stimmengewirr empfing ihn und ein seltsamer Geruch, den Ilvio nicht kannte. Er sah sich um. Eine Reihe von Glastüren schienen ins Freie zu führen. Ilvio steuerte auf die nächstliegende zu.
Draußen schien die Sonne. Ein kühler Wind wehte. Jemand neben ihm pfiff laut. Ein schwarzes Auto hielt an und der Mann stieg ein. Auf dem Dach leuchtete ein gelbes Licht auf. Andere dieser Autos kamen und sammelten Leute ein, manche waren schwarz, andere gelb oder ganz bunt. Das mussten Taxis sein, dachte Ilvio.
Er ging lieber zu Fuß. Er wusste ohnehin nicht, wo er hinwollte. Riesige Gebäude aus hellem Stein ragten neben der Straße empor. Autos hupten und brausten an ihm vorbei. Ilvio atmete tief durch und musste prompt husten. Stadtluft war eindeutig nicht mit Meeresluft zu vergleichen. Er drehte sich in alle Richtungen und erkannte eine Brücke.
Ilvio folgte ein paar Fußgängern und stand nach einigen Minuten am Ufer eines dreckig-braunen Flusses. Ilvio schauderte. In die Brühe würde er nicht mal eintauchen wollen, wenn jemand ihn mit vorgehaltener Waffe dazu zwang. Er schirmte die Sonne mit der Hand ab, sodass sie ihm nicht in die Augen schien, und überlegte, was Audrey gesagt hatte. Die London Underground solle er nehmen, wenn er längere Strecken fahren wollte. Wollte er das? Möglicherweise.
Er zählte das Geld in seiner Tasche und fand bald ein Gebäude, an dem das Underground-Zeichen angebracht war. Dort kaufte er sich einen Drei-Tage-Pass, nachdem er auf seinen Notizzettel gesehen hatte. Audrey hatte ihm glücklicherweise alles notiert und wieder war er seiner Tante unendlich dankbar für ihr Interesse an der Menschenwelt und dass sie die Geduld besessen hatte, ihm die Menschenschrift beizubringen.
Ilvio beobachtete die Leute um sich herum. Die anderen nachahmend, steckte er die Karte in einen schmalen Schlitz vor ein paar schwarzen Drehkreuzen. Das Drehkreuz gab nach und Ilvio tauchte mit einer steilen Rolltreppe in die Tiefe.
An der Wand hingen in immer gleichen Abständen Plakate mit den unterschiedlichsten Bildern und Texten. Ein Plakat erregte seine Aufmerksamkeit, darauf war ein Foto von einer Meerjungfrau, am Arm eine weiße Gestalt mit einem Umhang und eine Art Teufel. Sie schlenderten Arm in Arm über eine nächtliche Straße. Im Hintergrund sah er runde orange Laternen mit Gesichtern.
Dort wo solche Wesen waren, passte er sicher auch gut hin.
„Camden Town, Open Air Halloween-Party“, las er laut vor und nickte. Er sah auf seinen Notizzettel. Genau. Auf Parties gab es Musik. Schnell schrieb er sich die Worte „Camden Town“ auf. Am Fuß der Rolltreppe drehte er sich um und trat ein wenig zur Seite. Eine junge Frau in einem hautengen dunkelblauen Kleid kam geradewegs auf ihn zu. Sie sah ihn einen Moment an und Ilvio ergriff sofort die Gelegenheit.
„Wissen Sie, wie ich nach Camden Town komme? Ich bin nicht von hier.“
Sie stutzte, dann lächelte sie.
„Nehmen Sie die Victoria Line, die blaue, Richtung Seven Sisters bis Euston. Da müssen sie umsteigen in die Northern Line, eine schwarze. Richtung Edgware, ich glaube, High Barnet geht auch. Und dann kommen sie automatisch an Camden Town vorbei.“
„Die Bahnen haben Farben?“, fragte Ilvio, während er sich hektisch Notizen machte.
Die Frau lachte. „Oh, Sie sind wirklich nicht von hier. Die Lines haben verschiedene Farben. An den Wänden sind farbige Fliesen als Streifen und auf den Wegweisern sind die Farben auch. Ganz einfach. Kein Ding. Das schaffen Sie schon!“ Sie sah ihn einen Moment an.
„Kommen Sie mit, ich muss auch die Victoria Line nehmen. Ich zeige Ihnen wenigstens den ersten Zug.“
Ilvio ging dankbar mit. Sie kamen durch einen gefliesten Tunnel auf eine Plattform. Hier schien es nicht weiterzugehen. Eine Art unterirdischer Bahnhof also. Die Frau deutete auf ein Schild mit leuchtender Schrift.
„Noch drei Minuten, dann kommt die richtige Bahn.“
Als ein niedriger Zug mit knallroten Türen kam, folgte Ilvio der Frau ins Innere. Er verlor sie schnell aus den Augen zwischen all den Menschen, aber er würde es schon schaffen. Eng gedrängt zwischen einem dicken Mann im Trenchcoat und einem gepiercten Mädchen blieb er stehen und hielt sich an einer Stange fest, als die Bahn ruckelnd anfuhr.
Aruni sah sich im Geschäftsraum um. Es war kein Kunde da. Ein paar junge Frauen gingen am Laden vorbei und zeigten kichernd auf einige der Kleidungsstücke im Fenster. Touristinnen. Aruni schüttelte den Kopf, winkte aber freundlich. Gleich war Feierabend. Party-Zeit. Lange hatte sie überlegt, ob sie sich trauen sollte, ihre echten Hörner heute Abend zu zeigen. Auf der Halloween-Party würde sie nicht auffallen. Ja, heute würde sie es wagen. Sich endlich einmal nicht verstecken. Aber zuerst würde sie ein wenig die Ständer abstauben. Mit den letzten Kunden kam die Dunkelheit. Endlich, geschafft. Ihre Schicht war zu Ende. Zeit, sich schick zu machen.
Aruni schloss die Tür und hängte ein „Bin gleich zurück“-Schild an die Fensterscheibe. Als Kostüm wählte sie eine knappe, rot-schwarze Korsage und einen kurzen, schwarzen Rock. Dazu passten ihre Stiefel perfekt. Sie schminkte sich vor dem Spiegel in der Umkleidekabine Smokey Eyes und feuerrote Lippen. Langsam löste sie die Satinbänder und ließ ihre dicken schwarzen Haare in langen Wellen über die Schultern hängen. Dann legte sie das Geld für ihr Kostüm in die Kasse und begutachtete sich nochmal im Spiegel. Sie zog eine Grimasse und zeigte ihre schwarz lackierten Krallen. Darüber musste sie lachen. Oh ja, das wirkte teuflisch. Nicht einmal ihre Mutter hätte daran etwas auszusetzen gehabt.
Als Aruni aus der Kabine trat, kam Lilly, ihre Ablösung für den Abend. „Du bist ja schon verkleidet! Mann, du siehst heiß aus!“ Sie drückte ihr einen Kuss auf jede Wange und sah sich Aruni noch einmal an. „Mensch, irre. Die Hörner sehen total echt aus. Wo hast du die nur wieder her? Hier, ich hab dir dein Abendessen mitgebracht.“
Arunis Kollegin trippelte in ihrem bodenlangen schwarzen Kleid à la Morticia Adams zum Tresen, legte ihre Tasche ab und reichte Aruni eine Papiertüte mit einem rosa-weißen Logo.
Aruni schnupperte und riss die Tüte auf. „Oh, Lilly! Meine Lieblingsdonuts mit Karamellfüllung und Schokoladenglasur! Du bist ein Schatz!“ Mit geschlossenen Augen biss sie in das süße Gebäck. „Himmlisch...“, gurrte sie. Lilly lachte. „Und das aus dem Mund einer Teufelin.“
Aruni vergaß weiter zu kauen und sah Lilly erschrocken an, aber die beschäftigte sich schon wieder mit dem Kassenbuch. Ach ja, das Kostüm. Sie entspannte sich wieder und kaute weiter.
„Kommst du nachher auch? Am Camden Lock steigt eine riesige Open Air Party heute. Petunia ist bestimmt schon ganz wild aufs Tanzen. Sie hat sich letztens schon die Karten gelegt und meinte heute würde sie den Mann fürs Leben kennenlernen. Einen Tänzer“, erzählte sie zwischen zwei Bissen und verdrehte die Augen ein wenig.
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