„Ja, ich war bei Jenna“, sagte er und zog die Schultern zurück. „Du brauchst gar nicht so an mir zu schnüffeln.“ Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans. Lierd zog die Lippen ein Stück zurück und entblößte seine perfekten weißen Eckzähne. Ein leises Knurren ließ sie in seine Augen blicken. Darin loderte sein eigenes Feuer. Wild und unbezähmbar. „Aruni ...“, fauchte Lierd. „Sieh mich nicht so an. Ich weiß, was du denkst, und du liegst falsch.“
Sie löste ihren Blick und drehte den Kopf zur Seite. Schritt für Schritt ging sie rückwärts, bis sie an die Küchenwand stieß. Lierd blieb stehen, wo er war und lehnte sich an den kleinen Klapptisch, der in der Mitte der Küche stand. Es knirschte vernehmlich. Lierd riss die Augen auf und fiel wie ein gefällter Baum nach hinten, als der Tisch nachgab. Die Tischplatte brach in der Mitte durch und Lierd landete zwischen den großen Splittern auf den Küchenfliesen. Er stieß einen saftigen Fluch aus. In einer geschmeidigen Bewegung richtete er sich wieder auf und sah halb mitleidig auf den Berg aus Sperrholz und Plastik.
„Ich kaufe dir morgen einen neuen Tisch. Leg dich wieder schlafen“, sagte er und verließ die Küche. Die Haustür fiel laut ins Schloss. Aruni ließ den angehaltenen Atem ausströmen.
Ilvio schwamm ärgerlich von den anderen weg. Es war alles so sinnlos. Tanzen, tanzen, tanzen, singen, singen, singen. Mehr taten sie nicht. Aber zu dieser Musik wollte er nicht mehr tanzen, und er wollte auch nicht singen. Er wollte die Welt sehen. Etwas, was keiner der anderen verstand. Ilvio schwamm zum Ufer und richtete sich auf. Und bald würden sie ihm dafür auch danken. Er würde ihnen neue Musik bringen. Dann würde es besser werden. Für eine Weile. Und wenn auch das langweilig geworden wäre, würde er eben erneut losziehen.
Am Strand spürte er die ungewohnte Härte des feuchten Sandes unter den Schwimmhäuten seiner Zehen und seufzte. Mit großen Schritten lief er am Wasserrand entlang. Er rieb sich die Brust. Seine Lungen schmerzten, er hatte sie schon ein paar Monate nicht mehr benutzt. Am Ende des Sandstrandes sah er sich um. Vor ihm lagen die Klippen und darauf ein grüner Rand aus Gras und Bäumen. Hinter ihm lag das dunkle, unendliche Meer. Seine Heimat.
Entschlossen ging er bis an die steile Felswand, lief ein Stückchen daran entlang und fand schließlich den schmalen Pfad, der holprig und schief zwischen den Felsen landwärts führte.
Ilvio ging ohne zu zögern den Pfad entlang. Auf einmal öffneten sich die Felsen, und er stand oben am Klippenrand, hoch über seiner Welt. Als die Sonne aufging und das Meer glitzern ließ, flog ein Schwarm Seemöwen laut kreischend über seinen Kopf hinweg. Ilvio warf den Kopf zurück und lachte. Er ließ sich auf das Gras fallen und sah einfach in den Himmel, folgte den Wolken mit seinen Blicken und staunte über all die Farben, die durch den Himmel wanderten. Zuerst dunkles Blau, dann ein roter Schimmer wie von Seesternen, und dann hatte der Himmel eine so strahlend blaue Farbe, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zumindest kam es ihm so vor. Die unendliche Weite und die klare Luft nahmen ihm den Atem.
Seine Gedanken begannen zu wandern, zusammen mit den Wolken. Wohin sie wohl zogen? Noch nie war er allein an Land gegangen. Sonst kam immer seine Tante mit. Aber sie teilte nicht seine Meinung, dass sich etwas ändern musste.
Eine melodische Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen.
„Oh? Besuch?“ Ein leises Lachen ertönte.
Ilvio schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und drehte den Kopf. Audrey! Eine der wenigen Menschen, die von den Meereselfen wussten. Wobei Audrey streng genommen kein Mensch mehr war, sondern ein Geist. Natürlich, sie wohnte immer noch an diesem Küstenabschnitt, das letzte Mal hatte er sie allerdings auf der anderen Seite der Küstenstadt gesehen.
„Schön, dich wiederzusehen, Ilvio“, sagte Audrey und setzte sich ihm gegenüber in das Gras. Sie nickte zum Meer. „Ein berührender Anblick, nicht wahr? Möglicherweise ist es dieser Anblick, der mich an diese Welt fesselt.“ Sie richtete den Blick zum Horizont. Ilvio schmunzelte, sie und er wussten genau, dass es nicht nur am Sonnenaufgang lag, dass Audrey immer noch hier war, obwohl sie längst gestorben war. Sie hatte sich einfach entschieden zu bleiben, genau wie ihre Eltern, die den Geisterhügel hinter der Küstenstadt bewohnten.
Mit einiger Belustigung begriff er plötzlich, wieso sie ihn nicht ansah. Er war nackt, bis auf die paar Seealgen, die er sich um seine Lenden geschnürt hatte.
„Bleibst du länger?“, fragte Audrey. „Ich könnte dir eine Hose beschaffen, und vielleicht ein Hemd.“
„Das wäre wunderbar“, sagte Ilvio. „Ich möchte nach London. Du hast mir doch schon oft von der Hauptstadt erzählt. Gibt es dort gute Musik?“
Audrey lachte. „Aber ja! Was suchst du genau?“
„Das werde ich erst sicher wissen, wenn ich es höre“, überlegte Ilvio. „Bei uns ist alles so eintönig geworden. Wir brauchen etwas Neues.“
„In London wirst du es bestimmt finden. Es gibt dort andauernd Konzerte, Partys, Musikgeschäfte, alles Mögliche. Komm mit, ich habe alles in den Hügeln gehortet, was du brauchst.“
Ein schrilles Klingeln riss Aruni aus dem Schlaf. Müde rieb sie sich die Augen und starrte auf ihren Wecker. Dann streckte sie den Arm aus, um das nervtötende Klingeln auszuschalten. „Mist, schon Zeit zum Aufstehen“, sagte sie zu Ash, schlug die Decke zurück und quälte sich aus dem Bett.
Nach einer heißen Dusche sah die Welt deutlich freundlicher aus. Das Wasser war natürlich weniger heiß als Feuer, für ihre menschliche Haut so aber auch viel angenehmer. Aruni machte Ash Frühstück und aß selbst ein paar Bissen von dem Curry, das sie am Vortag gekocht hatte.
Vor dem Spiegel zog sie sich an und türmte ihre Haare zu zwei kleinen Knoten, die sie um ihre Hörner schlang. Darum wickelte sie zwei schwarze Satinbänder. Als sie fertig war, verzog sie den Mund. Nicht direkt schön, aber zumindest einigermaßen unauffällig und praktisch. Sie sah sich nach ihrer Katze um.
„Bis später, Ash. Ich hoffe, Lierd wird dich nicht stören, aber ich weiß, dass er dich eigentlich mag.“
Ash miaute verneinend und Aruni musste lächeln. „Doch, bestimmt. Ich muss los. Mach keine Dummheiten!“ Sie streichelte Ash über den Rücken und verließ ihre kleine Wohnung.
Die Luft war kühl und die Sonne noch nicht aufgegangen. „Abscheulicher Herbst“, dachte sie im Stillen. Zu kalt und eindeutig zu nass. Wehmütig erinnerte sie sich an die heißen Sommertage. Sie zog ihren Mantel enger um sich und schlenderte die Straße entlang. Die Geschäfte waren alle noch geschlossen. Kaum jemand war unterwegs. Ein Mann im dunklen Trägerhemd mit knallroten Haaren, die wirr in alle Richtungen standen, torkelte vor ihr gegen eine Laterne und hielt sich daran fest, als ob er mit ihr tanzen wollte. Doch nach ein paar wiegenden Schritten, klammerte er sich nur noch fest und wankte gefährlich.
Schon aus zehn Schritten Entfernung roch sie den Alkohol in seinem Atem. Er hatte trotz des kühlen Wetters nackte Arme und als sie näher kam, schaute sie auf die Tätowierungen auf seiner Haut. Bei einer rot gehörnten Teufelin in Stöckelschuhen, Korsage und Strapsen musste Aruni grinsen. Das leibhaftige Abbild von Flame. Aber Flame kam nie in die Menschenwelt. Genaugenommen kam fast niemand von ihrer Familie in die Menschenwelt, seitdem ihre Mutter einmal diesen „Fehlgriff“, wie sie es nannte, mit Arunis Vater gehabt hatte.
Aruni stieß mit dem Fuß gegen etwas. Es schepperte, eine leere Cola-Dose flog in hohem Bogen durch die Luft und traf den Mann an der Wade. Der Tätowierte drehte sich zu ihr um und fluchte.
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