„Alles okay bei dir?“, fragte Ash.
Arunis Zähne klapperten, aber es kam ein einigermaßen verständliches Ja über ihre Lippen.
Ash war wirklich eine gute Schwimmerin, aber wie lange würde sie Aruni tragen können? „Ash? Wohin müssen wir überhaupt?“
„Wir müssen tauchen“, meinte Ash. „Soweit ich weiß, leben Meereselfen unter Wasser.“
Aruni spürte ihre Füße nicht mehr, ihr Seelenfeuer glühte kaum noch. Sie sah zurück zum Strand. Lierd stand noch immer dort und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie von hier aus nicht erkennen. Und Ilvio lag noch immer zu seinen Füßen auf dem hellen Sand. Aruni schluckte die Angst hinunter, so gut es ging.
Ash löste Arunis Arme vorsichtig von ihren Schultern. „Du musst mit deinen Armen Kreise unter Wasser ziehen, so wie ich. Und mit den Beinen einfach paddeln, als würdest du laufen.“
Widerstrebend ließ Aruni los und ruderte wild mit Armen und Beinen.
„Gut“, sagte Ash, aber sie sah nicht überzeugt aus. „Nicht ganz so schnell. Du brauchst noch ein bisschen Kraft. Warte hier, ich sehe nach, ob ich etwas erkennen kann da unten.“ Ash biss die Zähne zusammen, holte tief Luft und tauchte unter. Kurz konnte Aruni sie noch unter Wasser erkennen, aber nicht sehr deutlich. Es war sehr dunkel da unten. Wie tief mochte es wohl sein? Aruni konzentrierte sich auf die kreisenden Bewegungen, sie brachte ihre Fingerspitzen zueinander und drückte dann das Wasser sacht nach außen, genau wie Ash es ihr gezeigt hatte. Ihre Zähne schlugen mittlerweile ohne Unterlass aufeinander. Endlich tauchte Ash wieder auf.
„Da unten ist etwas. Aber ich kann es nicht erreichen. Was machen wir nun? Ich kann nicht so lange die Luft anhalten. Du bestimmt auch nicht.“
„Verdammt, daran habe ich nicht gedacht. Meinst du, sie sehen uns so?“
„Ich weiß es nicht“, gab Ash zu. „Und wenn, sie tauchen ja nicht bei jedem Schwimmer auf. Erst recht nicht, wenn es Menschen sind.“
Dass Ash einmal nicht wusste, was zu tun war, versetzte Aruni fast in Panik. Aber dann fiel ihr etwas ein. Sie begann die Elfenmelodie zu summen, die sie von Ilvio beim Aufwachen gehört hatte. Die Worte kannte sie nicht, sie formte einfach ohne Worte die Töne, so laut sie konnte. Vielleicht würde Ilvios Tante sie hören und die Melodie erkennen. Ash sah sie einen Moment entgeistert an, aber dann zog ein wissendes Lächeln über ihr Gesicht, und sie summte mit.
Als Aruni endgültig die Kräfte verließen, ging sie unter wie ein Stein. Sie sah, wie Ash versuchte, nach ihr zu greifen, und wie sie den Mund bewegte, aber ihre Ohren waren erfüllt vom Rauschen des Wassers und ihre Finger waren so kalt, dass sie sie nicht mehr bewegen konnte. Ashs Hand griff ins Leere, und Aruni sank schneller, als Ash ihr nachzutauchen vermochte.
Gerade, als Aruni endgültig aufgab, berührte sie etwas am Bein. Kräftige Finger stützten sie und drückten sie wieder an die Oberfläche. Aruni schnappte keuchend nach Luft und erwischte eine gehörige Portion Seewasser gleich mit. Hustend und spuckend versuchte sie, ihren Kopf oben zu halten und sich zu orientieren. Sie konnte kaum einen Muskel bewegen. Verblüfft sah sie eine fremde Frau vor sich im Wasser. Ihre Haut leuchtete blau und ihre Haare waren von so hellem Grün wie die ersten Blätter im Frühling. Aruni suchte die Wellen nach Ash ab. Im nächsten Moment tauchte auch Ash auf, getragen von einem rötlich schimmernden Mann mit riesigen, flügelartigen Flossen. Auch die Frau entfaltete jetzt Flügelflossen, wie Aruni staunend bemerkte. Ash zappelte im Griff des Meerelfen und hustete und fauchte abwechselnd.
„Bist du okay?“, fragte Aruni, als sie wieder genug Luft hatte. Ash nickte schwach und hustete weiter.
Die Frau, die Aruni gerettet hatte, fragte etwas. Aruni verstand kein Wort und schüttelte den Kopf. Sie versuchte es mit Englisch: „Danke, Sie haben uns das Leben gerettet! Wir haben Sie gesucht. Ilvio ist verletzt“, keuchte sie zwischen Husten und Luft schnappen.
„Ilvio?“, fragte die Frau mit einem ungewöhnlichen weichen Akzent.
Aruni deutete zum Strand. Die beiden schimmernden Gestalten sahen zum Strand. Die Frau schlug erschrocken ihre Hand vor den Mund. Dann tauchte sie los und verließ wenige Atemzüge später das Wasser.
Sie kniete bereits über Ilvio, als der rötliche Elf sowohl Aruni als auch Ash ans Ufer brachte. Er setzte die beiden vorsichtig ab. Staunend beobachtete Aruni, wie die Flügelflossen der Elfen zuerst zu durchsichtigen Insektenflügeln wurden und dann in ihrer Haut verschwanden. Lediglich blaue Streifen blieben zurück.
Dann ging der rote Elf zu Ilvio und strich vorsichtig über die Wunden an dessen Bauch. Er sagte etwas zu der Frau. Diese rannte ins Meer und tauchte unter.
Aruni sank auf den feuchten Sand und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Etwas Warmes legte sich schwer auf ihre Schultern. Sie sah zur Seite. Lierd hockte neben ihr und sah zerknirscht auf den verletzten Ilvio. Er sagte nichts, aber Aruni kannte ihn gut genug, um in seinem Gesicht zu lesen, dass es ihm leid tat. Sie zog seine Lederjacke enger um sich und starrte auf Ilvios Brust, die sich nur noch langsam hob und senkte. Verzweifelt nahm sie seine Hand und ließ sie nicht mehr los, bis die leuchtend blaue Frau mit drei anderen ihrer Art aus dem Meer auftauchte und zu Ilvio lief.
Vielleicht seine Familie, dachte Aruni. Sie werden ihm helfen können.
Aber ihre Gesichter waren besorgt. Eine der Frauen, die eine ziemlich normale Hautfarbe hatte, drehte sich zu Aruni um. „Was ist passiert?“, fragte sie. Sie sprach mit deutlich weniger Akzent und ihre Flügel verschwanden augenblicklich. Aruni hätte sie für einen Menschen gehalten, wenn sie es nicht besser gewusst hätte.
„Er wollte mich retten und dann wurde er verletzt“, antwortete Aruni und schielte zu Lierd. Zu ihrem Erstaunen erhob er sich. „Es tut mir leid, wir haben uns gestritten und der Kampf ist eskaliert. Er ist unglücklich gestürzt.“ Er senkte seinen Kopf und setzte sich schuldbewusst wieder in den Sand neben Aruni.
Die Frau sah ihn ernst an. „Es tut dir leid. Damit ist viel gewonnen.“ Sie suchte eine kleine Muschel aus dem Sand, brach sie in zwei Hälften und drückte sie auf die Haut an ihrem Unterarm. Ein dünner blauer Schnitt bildete sich, in dem Blut aufquoll. Langsam ließ sie sich im Sand neben Ilvio nieder. Aruni beobachtete mit einem dumpfen Gefühl von Ehrfurcht, Ekel und Angst, wie die Frau ein dünnes Rinnsal von blauem Blut über ihre Finger an Ilvios Bauch laufen ließ. Das Blut rann über seine helle Haut und sickerte in die Wunde. Erstaunt sah Aruni, wie sich die Wunde schloss und vor ihren Augen verheilte. Nicht einmal eine Narbe blieb zurück.
„Mein Neffe“, flüsterte die Frau und beugte sich hinunter zu Ilvios Gesicht. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Er bewegte sich noch immer nicht.
Aruni drückte seine Hand etwas fester und flüsterte seinen Namen. Sie hob seine Finger an ihre Brust und presste sie an ihr Herz.
Ilvios Tante sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge. „Du liebst ihn?“, fragte sie. Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. Aruni nickte trotzdem. Erneut kitzelten Tränen ihre Augen und rannen über ihre Wangen. Sehr lange saß sie an Ilvios Seite. Die Sonne ging unter. Mittlerweile klapperten Arunis Zähne wieder so haltlos aufeinander, dass Lierd sie schließlich schnappte und sie trotz Protest zum Wagen trug. Aruni war zu schwach, um sich zu wehren. Die Kälte hatte sie fest im Griff. Sie konnte nur da liegen, auf einem muffigen Rücksitz, die Decke des Autos anstarren und wurde von der wilden Fahrt durchgeschüttelt. Vorne stritten Lierd und Ash, aber Aruni verstand die Worte nicht.
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