Als Kindermädchen bei den jungen Brands, zurück aus der Grossstadt München, die sie nie mochte, verfügte sie zwar über sehr wenig Freizeit, aber die reformierten Brands liessen die katholische Maria selbstverständlich in den Kirchenchor gehen, schärften ihr jedoch ein, sich von Männern fernzuhalten. Bis zu dem Tanzabend im November hatten sie denn auch keine Ahnung, was da lief, denn die Geschichte der beiden war bisher mehr als harmlos gewesen.
Das änderte sich an jenem Abend. Bis in den frühen Morgen, bis Lorenz zurück zu seiner Arbeit gehen musste, blieben sie zusammen, erzählten sich ihr bisheriges Leben und fanden heraus, dass sie beide einsam waren und sich gegenseitig hilfreich sein könnten. Maria hatte sich verliebt und war nicht mehr zu bremsen.
Nur wenige Wochen später war Maria schwanger und damit gab es kein Zurück. In der Fastenzeit konnten die beiden nicht getraut werden, da war der Dorfpfarrer strikt dagegen und als Ostern vorbei war, konnte, wer wollte, schon sehen, wie dringlich die Hochzeit für die beiden geworden war und es gab, auch für jedermann sichtbar, kein weisses Kleid, keinen Kranz und keinen Schleier. Dummes Geschwätz und Gespött gingen durchs Dorf und meistens auf Kosten der werdenden Mutter. Beides erreichte auch den Kirchenchor. Maria wurde von den übrigen Frauen systematisch geschnitten und die Männer verzogen ihre Gesichter in verächtliches Lächeln oder machten gar doppelbödige Bemerkungen. Bei einer Probe verliess Maria weinend das Lokal im Schulhaus und trat aus dem Chor aus. Lorenz zog mit. Dafür war sie ihm dankbar.
Sie fanden im Haus beim Stocker, einem alten Kleinbauern mit zwei Kühen, dem seine Schwester den Haushalt führte, weil seine Frau ein paar Jahre zuvor gestorben war, zwei kleine Zimmer unter dem Dach. So konnte Lorenz seine Arbeit bei Melchior behalten. Maria, die ihre Stelle als Kindermädchen hatte aufgeben müssen, arbeitete jetzt bei den Brand-Cigars in Packerei und Spedition.
Ende September kam Erwin zur Welt und ein Jahr danach Theo, der eigentlich Theodor hiess.
Es wurde eng beim Stocker, aber auch schwierig, ein anderes Dach über dem Kopf zu finden, das die beiden bezahlen und bei dem sie gleichzeitig ihre Stellen behalten konnten. Das Zuwarten lohnte sich. Der Stocker starb und seine Schwester, einzige Erbin, verkaufte Haus und Land an Mama Brand. So konnten die Grampers in die weit grössere Wohnung im gleichen Haus ziehen.
Maria hatte inzwischen auch ihre Fabrikarbeit aufgeben müssen. Sie machte jetzt Heimarbeit. Woche für Woche holte der Lorenz mit Melchiors kleinem Leiterwagen Tabakblätter zum Ausrippen im Nachbardorf bei der Tabak AG. Brand-Cigars setzte zum Ausrippen längst auch Maschinen ein. In der Tabaki, wie viele Leute die Firma auch nannten und bei den meisten anderen, vor allem kleineren Konkurrenten, blieb man bei der Handarbeit und schlachtete diese Feinheit in der Werbung um Kunden aus.
Es war wenig Geld, das Maria mit ihrem Rippenzupfen verdienen konnte. Und mit dem, was Lorenz an Bargeld nach Hause brachte, konnten sie kaum die Wohnung bezahlen. Lorenz bekam seine Mahlzeiten bei Melchior und er brachte auch häufig etwas Fallobst und Gemüse oder Kartoffeln mit nach Hause.
Immerhin, Marias Familie drohte mindestens anfänglich auch im Winter weder Hunger noch Kälte. Die Stube liess sich mit dem aus der Küche befeuerten Kachelofen wärmen. Für Weihnachten brachte der Lorenz jeweils ein Tännchen aus dem Wald, ohne es zu stehlen, so etwas wäre für das ganze Dorf unverzeihlich gewesen, er hatte es jeweils vom Förster erbettelt. Geschenke gab es kaum, aber ein wenig Gebäck, das ihm Melchiors Magd zusteckte.
Das war gut so, denn inzwischen erwartete Maria mit ihren knapp 24 Jahren ihr drittes Kind, Felix. Die Geburt war schwierig, dauerte zu lange und so ganz harmlos war die Sache nicht, aber schliesslich begann der Junge zu atmen und zu schreien.
In dem Jahr, in dem Maria Felix zur Welt brachte, entbrannte der Zweite Weltkrieg. Lorenz musste einrücken. Maria hatte keine Ahnung, wovon sie und ihre Kinder leben sollten. Am Anfang gab es noch keinen Lohnausgleich und Lorenz› Sold reichte gerade, um seine eigenen Bedürfnisse zu decken.
Wenn Lorenz zu kurzem Urlaub nach Hause kam, gab es für wenige Stunden Freude über das Wiedersehen und danach Streit um die schwierigen Verhältnisse. Weihnachten kam, den beiden älteren Buben fehlten Schuhe für den Winter, im Sommer und im Herbst gingen sie barfuss. Lorenz brachte den Buben zu Weihnachten Schuhe. Männer mit kleinen Kindern durften für die Weihnachtstage nach Hause gehen. Lorenz hatte das Geld für die Schuhe beim Melchior ausgeliehen und Maria davon nichts erzählt.
Drei Wochen nach Weihnachten wurde Lorenz überraschend für einen längeren Urlaub entlassen. Er nahm seine Arbeit bei Melchior wieder auf. An Stelle von Bier trank er jetzt Apfelmost. Melchior beobachtete ihn aufmerksam und machte ihm Vorhaltungen, wenn er übertrieb. Es gab Spannungen, hin und wieder beinahe Streit. Lorenz fühlte sich bevormundet, er wurde der Arbeit als Knecht ohnehin überdrüssig.
Es gab für ihn keine Arbeitszeitbeschränkung. Er verliess das Haus vor fünf Uhr früh, um in Melchiors Stall die Kühe zu melken, während dieser das Futter für den Tag mähte oder im Winter das Heu vom Stock aufbereitete. Danach trafen sie sich in der grossen Küche bei der Babs zu Kaffee und Rösti. Brot gab es nur, wenn die gebratenen Kartoffeln nicht reichten. Beim Essen erhielt der Lorenz die Arbeiten für den Tag zugeteilt. Das waren in der Regel die jahreszeitlich anfallenden Feldarbeiten. Um fünf Uhr abends begannen wieder die Arbeiten im Stall, um halb acht kamen wieder Kaffee mit Rösti auf den Tisch, danach bekam jede Kuh ihr Wasser vom Brunnen in einem grossen Eimer hergeschleppt. Das war jeweils Lorenz’ letzte Arbeit.
Verschwitzt und nach Kuhdreck stinkend kam er danach nach Hause, die Kinder waren dann schon im Bett. In der kleinen Küche wusch er sich mehr schlecht als recht und zog sich für die Nacht um. Wenigstens hatten sie fliessendes kaltes Wasser, das gab es in einzelnen abgelegenen Häusern noch immer nicht. Warmes Wasser war ohnehin nur durch den holzbefeuerten Herd zu haben. Für Holz war gesorgt, das konnte der Lorenz beim Melch einfach holen, es war Teil des Lohns.
Aber Letzteres zählte für Lorenz nicht. Er begehrte auf, er wollte mehr Lohn, was Melchior ihm verweigerte und meinte, er überlege ohnehin, ihm zu kündigen. Beinahe ein halbes Jahr hätte er alle Arbeit alleine, mit der Magd oder alten kraftlosen Tagelöhnern machen müssen, während sein Knecht im Militär herumsass und Bier soff.
Der letzte Satz war zu viel gewesen. Lorenz ging in sichtbarem Zorn und mit starken Worten auf die Kündigung ein. Melchior traute seinen Ohren nicht. Er versuchte erfolglos, den fluchenden Mann zu besänftigen. Er wandte sich ab und sagte nur: «Vergiss die Kühe nicht, sie wollen gemolken sein!» Lorenz nahm sich zurück, ging in den Stall und molk auch an diesem Abend Melchiors Kühe. Er suchte sich eine andere Arbeit. Melchior versuchte nicht, ihn umzustimmen, aber sie konnten sich auf Ostern als Abgang einigen. Lorenz war überzeugt, eine Stelle zu finden. Viele junge Männer waren noch immer in der Armee und die Ausländer, die es vor dem Krieg noch gegeben hatte, waren alle weg.
Für Maria war Lorenz› Schritt ein schwerer Schlag. Als es gegen Ende Februar sehr kalt wurde und sie sich sicher war, erneut schwanger zu sein, ging Maria zum Gemeindeschreiber, um sich über mögliche Hilfen zu erkundigen. Ja, es würde eine Lösung geben, eine Art Lohnausgleich, aber viel werde das nicht sein, da der Lorenz wenig verdiente und sein Naturallohn, sie wusste anfänglich nicht, was der Schreiber damit meinte, nicht sehr ins Gewicht falle. Andere Möglichkeiten zu helfen sehe er nicht. Sie sei im Dorf nicht die Einzige, die der Hilfe bedürfe, es gäbe viele Familien, die sich einschränken müssten, die Meisten im Dorf hätten auch nichts zu lachen. Sie erwähnte nichts von Lorenz› Kündigung.
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