Das Paar kam aus dem Limousin und es dauerte eine Weile, bis Jean-Noël sich dazu überwinden konnte, seinen Geburtsort zu nennen, denn das alte Dorf Oradour gab es nicht mehr. Seine Grosseltern, seine Mutter und seine beiden Brüder waren mit allen Einwohnern von einer SS-Truppe in die Kirche getrieben, das Dorf in Trümmer gelegt und die Kirche angezündet worden. Nur Wenige überlebten die grauenhafte Tragödie, weil sie zufällig nicht im Ort waren, als das geschah.
Eine Tante hatte Jean-Noël für ein paar Tage nach Limoges mitgenommen, um seiner Mutter etwas Erholung zu verschaffen. Diese versuchte, sich und ihre drei Buben so gut es ging durchzubringen. Es gab im Ort ausser Hilfeleistungen an Alten und Gebrechlichen, Putzen und Waschen keine Arbeit und kein Einkommen von irgendwoher. Die Grosseltern im gleichen Haus bedurften selbst der Pflege. Aber wenigstens gehörte ihnen das Haus und es gab einen Garten mit etwas Gemüse. Das Leben unter der Besatzung war zermürbend. Jean-Noëls Vater kämpfte in der Résistance. Immer wieder wurde nach ihm gesucht, letztlich wurde er verraten, aufgegriffen, erhängt und später auf einer Gedenktafel als Held gefeiert. Davon konnte man nicht leben. Überall war Armut, war Hunger. Nach der Zerstörung Oradours war Jean-Noël Waise, er hatte auch seine zwei Brüder verloren und konnte bei der Tante in Limoges bleiben.
Nur langsam erholte sich die Wirtschaft im Limousin. Für das berühmte Porzellan aus Limoges gab es wenig Nachfrage. Kaum besserte sich die Lage ein wenig, da zehrte Indochina an der Substanz. Keiner im Volk wollte diesen Krieg gegen die Menschen in Vietnam, Laos und Kambodscha.
Als die französische Armee einbrach, sprangen die Amerikaner ebenso erfolglos in die Bresche. Das etablierte Frankreich versuchte sich inzwischen mit enormem Aufwand auf Kosten der Wohlfahrt im eigenen Land in Nordafrika festzukrallen.
Drei Generationen von Männern und Frauen waren geprägt von diesen auszehrenden Weltkriegen, der Schlächterei in Indochina und zuletzt diesem Befreiungskrieg der Algerier. Sie bekamen ihren Marschbefehl oder trugen im Land die traurigen Folgen. Es war nicht nur vaterländische Pflicht, dem Befehl zu folgen, sondern Verrat, es nicht zu tun. Die Wehrpflicht der Bürger war seit der französischen Revolution für alle Nationen des durch die Jahrhunderte geschundenen Kontinents zur Regel geworden. Nur die Sozialisten und Kommunisten rannten schon seit der Jahrhundertwende dagegen an. Für alle anderen war Krieg eine unvermeidliche Realität, ein grosses Geschäft und für viele die Basis einer kleinen oder grossen Karriere.
Frankreichs Bevölkerung war ausgeblutet, durch die Niederlagen gedemütigt, politisch zermürbt und wirtschaftlich ruiniert, daher strömten Millionen französischer Bürgerinnen und Bürger in die kommunistische Partei. Nur so glaubten sie, zu ihrem Recht und zu einem erträglichen Leben zu finden. Viele waren keine wirklichen Kommunisten, schon gar nicht von Moskaus Gnaden.
Gewalt war das letzte Mittel, meistens entzündete sie sich an Hitzköpfen, Fanatikern oder auch nur Radaubrüdern. Das war in der Schweiz, beispielsweise in Zürich oder Bern, nicht anders, doch die Grösse des Raumes und die Zahl der Menschen vor allem in Paris waren unvergleichbar, stellte André fest.
Was den verwöhnten und eingebildeten Spiessern des Schmauchtals als unpassend oder gar verwerflich erschien, war für Frankreichs Menschen nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Bonzen und Pfaffen eine hart erkämpfte, stolze und unantastbare Tradition.
Jean-Noëls Frau Veronique war gelernte Krankenschwester. Ihr Vater war beim Überfall der Deutschen an der belgischen Grenze in Gefangenschaft geraten und im Lager an einer Lungenentzündung gestorben. Ihre Mutter und Jean-Noëls Tante waren Nachbarinnen und so kannten sich die beiden schon als Kinder. Nach Jean-Noëls Dienstzeit heirateten sie und zogen nach Paris, weil er dort Arbeit fand und diese zudem weit besser bezahlt war als in der Provinz.
Trotz ihrer drei Kinder hatte Veronique diese Arbeit nie ganz aufgegeben. Sie übernahm noch immer aushilfsweise Nachtwachen und Stellvertretung an Wochenenden im nahen Hôpital Bichat. Jean-Noël hütete derweil die Kinder, fütterte sie, ging mit ihnen auf den Spielplatz im nahen Park und brachte sie abends zu Bett.
Viel anderes gab es nicht ausser einer Gruppe für die Tänze und Lieder des Limousin. Einmal die Woche trafen sie sich, sangen und tanzten. Veronique und Jean-Noël lösten sich ab: Einmal sie, einmal er.
Die beiden sparten. Irgendwann würden sie den Moloch Paris verlassen, nach Limoges ziehen, dort eine Wohnung kaufen oder gar ein Haus bauen und ein Ingenieurbüro für elektrische Anlagen eröffnen.
Obwohl sie eigentlich in verschiedenen Welten lebten, wurden und blieben Veronique und Miriam Freundinnen, auch als das Paar mit ihren Kindern wirklich nach Limoges gezogen war.
Etwa zur gleichen Zeit fanden und kauften auch André und Miriam eine grössere Wohnung mit Terrasse in einem neuen Haus mit Aufzug auf der Buttes Chaumont mit Sicht auf den romantischen Park und die ganze Stadt, nicht weit von den Schulen, in denen sie unterrichteten. Die beiden Mädchen waren jetzt acht und zehn Jahre alt. Der Auszug aus der Enge war eine Erlösung für alle. Dennoch wusste André von den Hunderttausenden, die diesen Komfort nie schafften, obwohl sie jahrein und jahraus ihre ganze Kraft in ihre Arbeit investierten.
André blieb nüchtern, denn auch in der Schweiz gab es schwierige Schicksale. Mit solchen Geschichten, das wusste er, setzte er sich der Lächerlichkeit aus. Es war unmöglich, seine Erfahrung zu übertragen. Die Schmauchtaler würden die hunderttausendfache Wiederholung dieser und ähnlicher Schicksale, die Tragödien in der Geschichte der Grande Nation nie verstehen. Mehr noch, nicht nur dieser Nation, sondern aller europäischen Nationen, dieses endlose Elend permanenter Kriege durch alle Jahrhunderte.
Wie war es möglich, dass die Menschen in diesem kleinen Land der Seen und Berge am gemeinsamen Aufbruch zu einem Kontinent des Friedens, der Demokratie und der Wohlfahrt nicht nur nicht teilnehmen wollten, sondern nur mit Hohn und Spott darüber redeten?
Da rühmten sich die Menschen ihrer vier Kulturen und Sprachen und ignorierten die Chance eines Europas der zwei Dutzend Kulturen und Sprachen. Frankreich hatte in den vergangenen Jahrhunderten die lokalen Idiome der Bretagne, des Elsass’ und von Korsika unterdrückt und erst mit dem Bekenntnis zu den Freiheiten der Union zugelassen. Untergegangen waren auch die Diktaturen von Spanien und Portugal, wurde letztlich auch jene in Serbien zerschmettert durch das immer wieder geschmähte Amerika, aber ohne die Europäische Union wäre dieser Eingriff kaum politisch machbar gewesen. Ausser Serbien hatten alle osteuropäischen Länder mit gemeinsamer Grenze oder Nähe zur Union nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion echte Demokratien eingerichtet. Nicht auszudenken, wenn sich da Diktatoren wie in den meisten anderen Ruinen der kommunistischen Welt etabliert hätten, mit Sicherheit wäre der Balkankrieg nicht der Einzige geblieben!
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