Aber Maria hatte ihren Mann unterschätzt. Er wusste um die kommende Hilfe für Soldatenfamilien. Mit einer Arbeit in der Fabrik würde diese Hilfe bei einem nächsten Aufgebot besser ausfallen, als wenn er bei Melchior arbeitete. Er erklärte Maria mit grimmiger Miene: «Ich werde nicht mehr Knecht, sondern Arbeiter oder gar Angestellter sein!»
Als Maria der Gemeindeschwester von ihrem Zustand erzählte, zeigte die sich entsetzt. Sie könne sich doch nicht einfach so gehen lassen. Die Schwester war selbstverständlich ledig, ein Fräulein, und hatte keine Ahnung. Lorenz hingegen freute sich auf das Kind, bestimmt ein Mädchen!
Im März fand Lorenz bei Grosshändler Stöhr, Bier, Most und Limonaden, eine Stelle, vorläufig als Mann für alles, wie ihm sein neuer Patron jovial erklärte. Der Lohn erschien ihm eher spärlich, doch bei grossem Einsatz würde der wie von selbst klettern, meinte sein Arbeitgeber.
Melchior fand einen wegen einer groben Fussverletzung leicht hinkenden, vom Militär ausgemusterten, aber fleissigen Knecht aus dem Wallis.
Maria bat Lorenz, sich mit Melchior auszusöhnen, immerhin blieben sie Nachbarn, und wer weiss, vielleicht würde man sich wieder brauchen. Melchior zeigte sogar ein gewisses Verständnis und meinte zu Lorenz, er habe nun eine Hilfe, auf die er zählen könne.
Als Melchs Magd zu einem familiären Notfall gerufen wurde, machte sie ihm den Vorschlag, Maria Gramper als Aushilfe zu nehmen. Melchior zögerte einen Augenblick und sagte zu. Maria brauchte nicht lange nachzudenken, sie sah für ihre stets hungrigen Kinder nur Vorteile. Lorenz grollte ein paar Tage. Aber schliesslich gab er nach.
Milch, Brot, Käse, Kartoffeln, Gemüse, ab und zu Geräuchertes aus dem Kamin und Kaffee gab es beim Melch wirklich genug, davon durfte Maria mit nach Hause nehmen.
Im September 1940 musste Lorenz wieder einrücken. Die deutsche Wehrmacht überrannte Belgien und besetzte beinahe ganz Frankreich. Die Schweiz sah sich unmittelbar gefährdet. Ende Oktober kam Franz zur Welt. Maria fürchtete sich, im Winter für ihre Kinder oder gar mit ihnen hungern zu müssen. Zwar waren seit Kriegsbeginn Lebensmittelkarten eingeführt worden, aber ihr fehlte das Geld. Die Hilfe für die Familien der Wehrmänner kam jetzt zwar in Gang, doch hatte sie noch keine Ahnung, was sie erwarten durfte. Von Lorenz› Sold sah sie nie etwas. Der Füsilier steckte irgendwo in der Innerschweiz in den Bergen, im Reduit, wie er ihr erklärte und bekam über Wochen keinen Urlaub und wenn, hatte er sich auf der Heimfahrt mit seinen Kumpeln und etwas Bier in feuchtfröhliche Stimmung gebracht.
Mama Brand stundete den Mietzins weiter, sie liess Maria aber wissen, sich nicht allzu sehr auf ihre Geduld zu stützen. Kurz danach konnte Maria Milch und Brot in der Molkerei und beim Bäcker weiter anschreiben lassen. Die Gemeinde würde dafür aufkommen. Den Bescheid erhielt sie vom Armenvogt
Bis zum Ende des Krieges im Mai 1945 musste Lorenz noch dreimal einrücken und noch zweimal wurde Maria, wenn er auf Urlaub kam, schwanger. Markus kam zur Welt, als Stalingrad fiel und als die Kirchenglocken landauf, landab endlich den Frieden in Europa verkündeten, waren Maria und Lorenz Eltern von sechs Buben, der älteste zehn Jahre und der Jüngste, Peter, einen Monat alt.
1955 wurde Lorenz Gramper zum zwölften Mal Vater. Maria brachte ihr letztes Kind, Julia, zur Welt. Kurze Zeit danach begann Felix, der dritte Sohn, seine Lehre als Zimmermann und der 16-jährige Franz, der um alles in der Welt Bauer werden wollte, kam zu Melch auf den Hof. Er blieb auch nach der Lehre, zum Leidwesen des Knechts, beim Melch. Franz brachte neue Ideen von der Schule, die dem Knecht kaum je passten, dem Melch aber schon. Der Alltag auf dem Hof änderte sich. Franz wurde zu einem harten Arbeiter. Er riet schon während der Ausbildung unter anderem zur Pflanzung von Niederstamm-Obstbäumen. Melch war skeptisch, gab aber dem Drängen nach. Franz drängte auf eine Melkmaschine und setzte auch den Kauf eines Traktors mit modernem Pflug durch. Melch war kein armer Mann, auch nicht geizig, er fürchtete sich aber vor den schwierigen Zeiten, die kommen könnten.
Doch Franz setzte ihm auseinander, der Hof müsse für die Zukunft gerüstet sein, er, der Melch und sein Knecht, der ohnehin schon ein wenig Behinderte, würden älter und der Einsatz moderner Hilfsmittel daher unumgänglich. Ein später möglicher Pächter müsse vermutlich die ganze Arbeit alleine machen.
Franz war durch die Bauernschule nicht nur zu einem modernen Landwirt, sondern auch zu einem hervorragenden Handwerker geworden. In den Wintermonaten gingen sie daran, Franz› Pläne zum Umbau der Scheune umzusetzen, betonierten Fundamente und Böden. Die Balken und Bretter für die neue Holzwand, den grösseren Heuboden und das erweiterte Dach lieferte die Zimmerei, in der der von seiner Wanderschaft zurückgekehrte Zimmermann Felix arbeitete.
Felix half selbst in jeder freien Stunde mit, Melchiors Vieh eine verbesserte Unterkunft zu bieten, wie er es nannte. Dabei fasste er den Entschluss, ein eigenes Haus zu bauen.
In Bremen hatte er am Ende seiner Wanderschaft nach der Lehre als Zimmermann Hannelore geheiratet, die mit ihm in die Schweiz gekommen war. Ein grosses schönes Haus wollte er bauen, ohne eine Ahnung zu haben, wie er dies schaffen würde. Sie würden Kinder haben, er und Hannelore, dachte er, während er half, Melch die Scheune umzubauen. Als die Balken der vergrösserten Scheune aufgerichtet waren und auf dem First am aufgesteckten kleinen Tännchen die bunten Bänder flatterten, erzählte er von seinem Traum, dem eigenen Haus für Hannelore und die kommenden gemeinsamen Kinder.
Zwei Sommer später, als Hannelore schwanger war, bot Melchior dem jungen Paar im Bärenzopf ein Stück für ihn beinahe unbrauchbares Land mit den Grundmauern eines einst abgebrannten Hauses, aber an recht reizvoller Lage an der Grenze zu Wirrwil an, dies als Lohn für die Arbeit an seiner Scheune, zu einem Preis, den die beiden bezahlen konnten. Hannelore war nicht mit leeren Händen gekommen. Auch die Mutter in Bremen wollte den beiden gut und hatte nachgeholfen.
1963 ertrank Melchiors jüngster Sohn Alois mit dem älteren seiner beiden Enkel auf dem See. Dieses Unglück traf ihn bedeutend härter als alles zuvor.
Melch machte im Jahr darauf den 24-jährigen Franz Gramper zum Pächter des Hofs. Wiederum gemeinsam erneuerten und erweiterten sie das Wohnhaus um eine kleine Wohnung.
Während der Umbauarbeiten wurden erstmals seit Jahrzehnten alle Schränke, Kommoden und Truhen ausgeräumt. Melchior, der sich dieser Arbeit hauptsächlich annahm, warf beinahe achtlos alles weg, was ihm an altem Krempel in die Hände fiel. Es war reiner Zufall, dass nicht er, sondern Franz auf einen an den Waisenvogt des Dorfes adressierten, aber offensichtlich nicht zum Versand gebrachten vergilbten Briefumschlag aufmerksam wurde.
Er dachte sich nicht viel, als er ihn aufbrach und aus lauter Neugier zu lesen begann. Geschrieben worden war er von Emma, Lukas› Mutter, vermutlich kurz bevor sie starb. Sie sorgte sich um die Zukunft ihres ersten Sohnes, falls sie sterben sollte und bat den Empfänger, sich nach ihrem Tod um Lukas zu kümmern, denn sie wisse nicht, ob ihr Mann dazu in der Lage sein würde oder dies wirklich wolle.
Dieser Bitte und den Zweifeln gegenüber ihrem Mann folgte kurz und klar die traurige Geschichte von dem Verbrechen, das ihr Vater ihr angetan hatte. Göpf war nicht nur ihr eigener, sondern auch Lukas› Vater. Sie vermochte die Blutschande nicht offen zu legen, fürchtete sich auch vor ihrem Vater und fasste Mut, als Melch ihr versprochen hatte, ein guter Mann zu sein.
Die alte Stine hatte das Geheimnis gekannt, die Gefahr geahnt und versucht, ihr Grosskind zu schützen und kam doch zu spät. Es war Stines Idee gewesen, Melch zur Annahme des Kindes und zur Heirat mit Emma zu überreden und ihm dafür das Erbe der Familie in Aussicht zu stellen. So würde er zu einer guten Partie kommen, früher oder später sein eigener Herr sein und nicht als elender kleiner Knecht auf Lebzeiten für sein notgedrungen sehr bescheidenes Auskommen rackern müssen. Was weder die Stine noch der Göpf wussten: Melch mochte Emma, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
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