Es gab viel zu reden im Dorf, als Emma, für jedermann unerwartet, von ihrem unehelichen Kind entbunden wurde. Nach wenigen Wochen ging sie wieder in die Fabrik und Stine hütete den kleinen Lukas. Das Rätselraten über die mögliche Vaterschaft dauerte über Monate. Die völlig verdatterte junge Mutter weinte zwar oft, schwieg aber eisern zu dieser Frage.
Erst im August 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach und der Knecht Melchior Stramm zum Militärdienst eingezogen wurde, meldeten er und Emma sich zur Hochzeit an. Im Dorf sickerte durch, Melch sei der Vater von Lukas und nur im Hinblick auf den möglichen Krieg hätten sich Göpf und seine Mutter dazu überwinden können, die Schande ihrer Tochter, sich mit dem Knecht eingelassen zu haben, offenzulegen. Schon im September fand die Hochzeit statt. Der Mann konnte sich, niemand wusste, warum, vom weiteren Militärdienst befreien und blieb auf dem Hof.
Melchior Stramm fühlte sich jetzt nicht mehr als Melker und Knecht. Er getraute sich beinahe von einem Tag auf den anderen, dem Göpf entgegenzutreten. Schon kurz nach der Hochzeit nannte er ihn laut und schadenfreudig Klumpsack, drohte ihm seinerseits mit Prügeln und erschreckte die alte Stine jeden Tag mindestens einmal mit einem Riesengebrüll über irgendetwas, das ihm nicht passte. Auf diese Weise erhielt Emma in der Küche endlich fliessendes Wasser, das sie bis dahin kübelweise vom Brunnen in die Küche schleppen musste und nur wenige Wochen danach sagte die Alte ja zur Installation von elektrischem Licht im ganzen Haus.
Emma befahl er ungeduldig, ihre Arbeit in der Fabrik aufzugeben und den Haushalt zu übernehmen. Von jetzt an solle Stine entweder in die Fabrik gehen oder zu Hause allein ausrippen. So, wie Emma bisher Vater und Grossmutter beinahe unterwürfig und vor allem aus lauter Angst gehorchte, so folgte sie den Ansprüchen ihres Mannes. Der Magd aber sagte Melch, wenn sie sich der neuen Ordnung füge, könne sie bleiben, sonst müsse sie gehen. Die Martha – eine schon etwas ältere Jumpfer, wie man damals ledige Frauen nannte – hatte keine grosse Wahl, fügte sich und blieb.
Die Veränderungen auf Göpfs Hof wurden im Dorf sehr schnell wahrgenommen und jedermann wunderte sich.
Der Winter kam und ging vorüber.
Nicht alles entwickelte sich zum Guten. Im Frühling wurde der kleine Lukas zwei Jahre alt, stand noch immer nur wackelig auf den Beinen und begann kaum damit, einzelne Wörter zu reden. Er schlief oder schrie, wollte oft nicht essen und bewegte sich wenig. Melch interessierte sich für den Kleinen wenig, aber er nahm ihn ab und zu auf die Arme und sagte zu ihm: «Dir verdanke ich mein ganzes Glück, bleib gesund, Kleiner.» Dann tätschelte er ihm die Wangen, gab ihn seiner Mutter oder legte ihn ins Bettchen zurück.
Wenn er schrie, gab ihm Stine von ihrem sogenannten Kräutersud. Allmählich wurde Emma etwas neugierig, womit die Grossmutter ihren Urenkel beruhigte. Sie nahm von Kräutern und dem Sud eine Probe und lief damit zum Apotheker. Der war entsetzt. Die Inhalte waren mehr als fragwürdig. Da sei Mohn dabei, der hier wachse, giftiges Zeug. Bestimmt wurde der Bub dadurch in seiner Entwicklung bereits behindert.
Es kam zu einem ersten nachhaltigen Streit zwischen Stine und ihrer Enkelin. Melch sass mit in der Küche und sicherte so den Ausgang der Auseinandersetzung. Als alles raus war, nannte er Stine eine alte Hexe, eine Giftmischerin, früher hätte man solche verbrannt. Die Stine war entsetzt und bekreuzigte sich.
Da nun Stine nach wie vor Woche für Woche mit dem Handwagen Tabakblätter holte, sie in der Stube allein ausrippte und Freitag für Freitag ablieferte, begann Emma aufzublühen. Im Sommer erwartete sie ihr zweites Kind, den Moritz. Und in den drei Jahren danach kamen noch zwei, Michael und der jüngste, Alois.
Während diese drei ehelichen Söhne prächtig gediehen, blieb Lukas ein Kümmerling. Was ihn auszeichnete, war seine stets gute Laune und sein unstillbarer Appetit. Als ob er nachholen wollte, was er als Säugling versäumt hatte, ass er, was ihm in die Hände fiel. Emma musste schon bald alles wegschliessen, was in der Küche herumstand. Er machte sich selbst hinter die für die Schweine gedämpften Kartoffeln oder hinter den Krug mit dem Sauerrahm her.
Mit sieben ging Lukas zur Schule. Er war ein fetter kleiner Junge mit auffallend kleinem Kopf, kleinen Händen, kurzen Beinen und kleinen Füssen. Nach einer Woche schickte ihn der Dorflehrer nach Hause, er solle in einem Jahr wieder kommen.
So blieb ihm ein weiteres Jahr, um die Hühner zu jagen, auf den Wiesen erfolglos Schmetterlingen nachzurennen und seiner Mutter kleine Sträusse zu pflücken.
Emma hatte sich mit dem etwas dümmlichen Lukas, wie Melch ihn nannte, abgefunden. Sie liebe ihn, wie er halt sei, erklärte sie, wenn jemand es wissen wollte. Manchmal weinte sie bei so dummen Fragen.
Es gab nur einen Ärger, den sie dem Jungen nie verzieh. Er blieb Bettnässer. Beinahe jede Nacht liess er sein Wasser fahren. Sie tauschte sich darüber mit allen möglichen Leuten aus und versuchte alle Ratschläge nacheinander umzusetzen. Nichts half.
Als der Bub mit acht nochmals einen Einstieg in die Schule versuchte, behielt ihn der Lehrer zwar, aber der Pfarrer fand, Lukas würde nie richtig beichten lernen und demnach in Sünde leben müssen. Er fände dies unhaltbar und empfahl, den Kleinen in ein katholisches Heim zu geben, wo er vielleicht auch ein wenig schreiben und lesen lernen könnte, aber ganz bestimmt ein richtiges Kind Gottes werden würde.
Emma wollte ihren Buben nicht hergeben und Melch scheute die Kosten. Nur der Göpf machte sich für die Lösung stark und meinte, er würde für die Kosten aufkommen. Nach Ostern 1923, er war gerade zehn Jahre alt, schloss sich die Tür zwischen Emma und Lukas, den Melchior beinahe von Anfang an Lucky nannte.
An Pfingsten reiste Emma mit Melch an die Reuss zu dem alten umgebauten Kloster. Blass, traurig und sichtbar leichter geworden sah Lukas aus. Er sei erkältet gewesen, sagte die Nonne, die ihn betreute. Sie lud die beiden Gäste zur nachmittäglichen Vesper ein, dort würde Lukas mitsingen, lächelte die gute Schwester Cäcilie. Danach gab es im Refektorium zusammen mit anderen Besuchern Tee und etwas Konfekt. Um vier war die Besuchszeit vorbei. Emma und Melch mussten gehen. Erst auf der Heimfahrt wurde Emma bewusst, dass sie ihren Lukas nicht fünf Minuten für sich allein gehabt hatte.
Der Sommer kam und damit die strengste Zeit auf dem Hof. Es gab keine Besuche mehr an der Reuss. Für Weihnachten setzte Emma durch, dass Lukas nach Hause kommen durfte.
Lukas war verändert. Er hatte vor allem sein Lachen und seine sonst alltägliche Freude verloren. Als Melch ihn am zweiten Weihnachtstag zurückbringen wollte, begann er zu weinen. Er erbrach sein ganzes Essen und bat erbärmlich, bleiben zu dürfen. Also fuhr Melch allein hin, um die Sache zu klären. Der Direktor der Anstalt, ein Geistlicher, zeigte sich entrüstet. Es verstosse gegen jede konsequente Erziehung, wenn ein Kind aus einem Programm gerissen werde, in dem die kleine Seele Gott zugeführt werde.
Emma zog ihren besten Rock an und besuchte Mama Brand. Diese Frau stand damals noch immer der Brand Zigarrenfabrik vor. Inzwischen hatte sie in Deutschland längst eine Niederlassung gegründet, das Unternehmen auf beiden Seiten des Rheins durch die Kriegsjahre gesteuert und die Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Tabaks gemeistert. Sie hatte allen Widerwärtigkeiten getrotzt und sich allen Vorurteilen gegenüber Frauen als Vorgesetzten erfolgreich gestellt.
Als Emma Lukas zur Welt gebracht hatte, hatte sich die Mama, wie sie inzwischen genannt wurde, um Emma Sorgen gemacht und war dabei auf Zurückweisung oder mindestens Zurückhaltung gestossen. Emma wollte sich von niemandem helfen lassen, sie brach einfach in Tränen aus. Abschliessend hatte die Mama gesagt: «Kind, wenn du mir etwas zu sagen hast, komm und sag es mir.» Nun ging Emma hin und erzählte ihr von Lukas, ihrem kleinen dummen Buben.
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