„Kann es sein“, sagte Rylee langsam, „dass ihre Opfergaben etwas oder jemanden herbei gerufen haben?“
Die Alte sah einen Moment nachdenklich in den Wald. „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich. Allerdings … wenn sie zufällig die richtigen Kräuter verwendet haben …“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Und auf der anderen Seite jemand oder etwas gewartet hat … sich zurückgesehnt hat … dann …“ Sie sah Rylee in die Augen. „Dann könnte etwas herübergekommen sein. Lasst uns hoffen, dass es etwas Gutes ist und nichts Dunkles.“
Mehr war aus der Alten nicht herauszubekommen. Obwohl sowohl Stephan als auch Rylee sie mit weiteren Fragen bombardierten, um Hilfe baten und an ihr Gewissen appellierten, blieb sie stumm, schüttelte nur den Kopf und schaukelte, an ihrer Pfeife kauend, vor sich hin.
Erst als sie sich zum Gehen gewandt hatten und schon im Begriff waren, ins Auto zu steigen, hörte Rylee hinter sich eine Stimme, die völlig anders klang, als die der alten Frau. „Hüte dich vor dem Bösen im Wald!“, sagte sie und der merkwürdige Hall ließ Rylee erschaudern. Sie schoss herum und sah, dass die Alte kerzengerade in ihrem Stuhl saß, die Augen verdreht und schneeweiß. „Hüte dich!“, sagte sie noch einmal, dann sackte sie in sich zusammen. Rylee wollte zu ihr eilen, hörte jedoch im nächsten Moment ein sanftes Schnarchen. Sie zögerte, drehte sich dann zum Wagen um und stieg ein.
Stephan saß am Steuer und sah sie fragend an. „Was war?“, erkundigte er sich.
Rylee antwortete erstaunt. „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“
Er runzelte die Stirn. „Gesagt? Sie hat gar nichts gesagt.“
Rylee öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und ließ sich im Sitz zurücksinken. Ihr war eiskalt.
Beide schwiegen die Fahrt über. Als sie sich Securus Refugium näherten, beugte Rylee sich ruckartig vor. „Das gibt es doch nicht“, rief sie wütend.
„Der Blutsauger“, stellte Stephan fest und wirkte überrascht.
„Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?“, sagte sie und öffnete die Autotür, bevor Stephan den Wagen richtig zum Stehen gebracht hatte.
Vlad stieg gerade aus der Beifahrertür seines Mercedes. In der Hand hielt er eine Reisetasche. Rylee schoss auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Sie versuchte, den Eindruck, den seine hochgewachsene Gestalt auf sie machte, zu verdrängen.
„Was willst du hier?“, schrie sie ihn an. All ihr aufgestauter Schmerz entlud sich auf einmal. „Habe ich dir nicht klar gemacht, dass ich dich nicht mehr sehen will? Und deinen Brief kannst du dir sonst wohin stecken. Ich soll Vertrauen haben? Dass ich nicht lache.“
Er neigte den Kopf und sah mit unbewegtem Gesicht auf sie herab. Trotz ihres Zorns machte ihr Herz einen kleinen Satz, als sie in seine Augen sah.
Dann verzog er spöttisch den Mund. „Geht deine offensichtliche Abneigung so weit, dass du mir nicht einmal gestattest, das Portal zu benutzen?“
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und setzte erneut zum Sprechen an. „Das Portal?“, sagte sie und schluckte. „Du willst durch das Portal reisen?“
„Was hast du denn gedacht?“, fragte er kühl. „Du hast sehr deutlich gemacht, dass du keinen Besuch aus anderen Beweggründen wünschst.“
Sie trat einen Schritt zurück und spürte Stephan neben sich. Vlad maß ihn mit einem langen Blick. „Ich sehe, dass der Baumstreichler die Gelegenheit genutzt hat …“, sagte er gefährlich leise.
Stephan richtete sich auf. „Wenn ich Rylee richtig verstanden habe, geht es dich nichts mehr an“, sagte er ebenso ruhig.
Vlad musterte ihn eine Weile und nickte dann.
„Du magst recht haben.“ Dann wandte er sich an Rylee. „Was ist jetzt? Lässt du mich das Portal benutzen?“
Rylee hätte ihm am liebsten erklärt, er möge sich zum Teufel scheren, hielt sich jedoch zurück. Sie würde ihm nicht aus gekränktem Stolz den Zugang verwehren. „Natürlich“, sagte sie deshalb knapp und wandte sich zum Tor.
Securus Refugium reagierte irritiert und fragend. Noch vor kurzer Zeit hatte sie es angewiesen, Vlad keinesfalls Zutritt zu gewähren. Sie beruhigte es und erklärte ihm in Gedanken die Situation. Das Haus entspannte sich und gestattete es Vlad, ihr voran das Gartentor zu durchqueren. Schweigend gingen sie gemeinsam in den Keller zum Portalraum. „Wohin?“, fragte sie knapp.
Wortlos drückte er ihr einen Zettel in die Hand. „Diese Koordinaten. Die unterste Zeile ist der Code, den du eingeben musst.“
Schweigend tippte sie die Daten ein und wartete auf Antwort. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Bestätigung kam. Rasch trat sie an den Rahmen und drückte die entsprechenden Symbole. Ein gleißendes Licht erleuchtete den Raum bis in die hintersten Ecken.
Vlad trat darauf zu, blieb aber stehen, bevor er ins Licht trat. „Rylee“, sagte er und etwas Undefinierbares schwang in seiner Stimme mit.
„Gute Reise“, sagte sie knapp und vermied es, ihn anzusehen.
Er seufzte und stieg in den Rahmen. Einen Sekundenbruchteil später hatte das Portal ihn verschluckt.
Rylee atmete tief aus und wandte sich zum Gehen. Stephan lehnte am Türrahmen und beobachtete sie. „Sag nichts“, beschied sie ihn und lief an ihm vorbei. „Lass uns nach oben gehen und überlegen, was wir Kairos sagen.“
Er folgte ihr in die leere Küche und ließ sich am Tisch nieder. „Glaubst du, er sei wirklich durch die Opfergaben beschworen worden? Aber woher? Aus einer anderen Dimension?“
Sie stellte eine Flasche Wasser auf den Tisch, setzte sich neben den Schamanen und rieb sich die Augen. „Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall weiß er offensichtlich nicht, woher er kommt und was er ist und vermutlich noch weniger, wo er hinwill. Ich würde ihm gerne irgendwie helfen.“ Sie seufzte. „Als ob ich im Moment keine anderen Sorgen hätte.“
„Vlad?“, fragte er und verbarg nur ungenügend seine Neugier.
Zu ihrem Ärger spürte Rylee, wie sie rot wurde. „Das ist vorbei“, sagte sie abweisend. „Nein, ich meinte mehr diesen Jemand oder dieses Etwas, das mich im Wald angegriffen hat. Die alte Frau hat mich eben noch einmal eindringlich davor gewarnt.“
Sie sah seinen verständnislosen Blick und erzählte ihm von der Prophezeiung.
Stephan rieb sich nachdenklich das wie immer makellos glatt rasierte Kinn. „Vielleicht sollten wir den Wald durchsuchen und nachts Wachen aufstellen.“
Rylee winkte ab. „Sowohl das Haus als auch die Katzen wachen ausgezeichnet über mich. Ein direkter Angriff ist nur erfolgt, als ich mich einmal spätabends ein gutes Stück vom Haus entfernt aufgehalten habe. Ich habe allerdings keine Lust, das Haus nicht mehr alleine verlassen zu können. Aber wer sollte mir Böses wollen?“
Er schwieg einen Moment und wirkte grüblerisch. „Du bist sicher, dass Percival dir nicht dein Haus und das Portal neidet?“
Überrascht sah sie ihn an. „Wie bitte? Das glaube ich nicht! Ich halte ihn für einen ehrlichen, integren Hüter. Selbst wenn er es mir neiden würde, was ich nicht glaube, bin ich sicher, dass er mich nicht hinterhältig angreifen würde. Außerdem war er zur Zeit des Angriffs im Haus, und er kennt hier niemanden.“
Stephan nickte. „Du hast sicher recht. Und was du über den Sirenengesang und das grüne Blut erzählst …“
„Passt nur zu fünf außerirdischen Völkern, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, und von denen mir, zumindest soviel ich weiß, noch nie einer begegnet ist!“, vervollständigte sie seinen Satz. Sie zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn über den Tisch.
„Squeechs Recherchen haben ergeben, dass nur von diesen Spezies bekannt ist, dass sie grünes Blut haben:“
Stephan entfaltete das Blatt und betrachtete den Computer-Ausdruck.
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