Stephan setzte sich aufrecht. „Ihr wisst nicht, wie Ihr dorthin gekommen seid? Hat Euch jemand niedergeschlagen?“
Kairos hob, aufmerksam von allen Anwesenden beobachtet, die golden schimmernde Hand und strich sich über das glänzende Haar. „Ich glaube nicht“, sagte er dann. „Ich spüre keinen Schmerz. Es ist, als wäre ich aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als hätte mich etwas gerufen.“
Rylee sah irritiert von Stephan zu Maj. „Was hat Euch gerufen?“, fragte sie nach.
Kairos wandte sich ihr zu. „Keine Ahnung. Etwas … oder jemand.“ Er hob hilflos die Schultern. „Aber niemand war da. Ich habe gewartet, und, als ich Hunger bekam, bin ich losgelaufen.“
„Vielleicht könnt Ihr mich zu der Lichtung bringen?“, fragte Stephan. „Möglicherweise finden wir dort etwas, das auf Eure Herkunft schließen lässt.“
Kairos überlegte einen Moment. „Ich kann mich nur noch an die ungefähre Richtung erinnern und weiß nicht, ob ich sie wiederfinde. Und ich habe mich gründlich auf der Lichtung umgesehen, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe, um irgendwo Menschen zu finden. Es stehen einige bearbeitete Steine dort, aber sonst konnte ich keinen Hinweis auf meine Herkunft entdecken.“
Stephan erklärte: „Ich bin Schamane und verfüge über einige besondere Fähigkeiten. Vielleicht kann ich durch sie etwas mehr erfahren.“ Er stand auf.
„Jetzt?“, fragte Rylee überrascht. „Es wird bald dunkel! Möchtest du nichts mehr essen?“
„Nein danke. Aber du hast recht. Heute ist es zu spät. Ich werde jetzt nach Hause gehen und mir die Lichtung morgen früh, wenn es hell wird, ansehen.“
„Ich komme mit“, erklärte Rylee und rief damit ein Lächeln bei Stephan hervor.
Der Morgentau durchnässte ihre Jeans, und Rylee fluchte innerlich, dass sie wider besseren Wissens auf Stiefel verzichtet hatte. Es war kalt, und sie hoffte, dass die Sonne Wärme bringen würde. Noch stand sie jedoch nicht hoch genug, um mit ihren Strahlen durch die hohen Baumkronen zu dringen.
Kairos hatte sie begleiten wollen, sich aber heute Morgen schwach und schwindelig gefühlt. So waren sie alleine losgezogen, unter Zuhilfenahme einer vagen Richtungsangabe und Stephans Verbindung mit der sie umgebenden Natur.
Die Lichtung lag tiefer im Wald, als sie angenommen hatte. Eine Zeit lang waren Stephan und sie einem schmalen Pfad gefolgt, dann hatten sie diesen verlassen und sich ihren weiteren Weg durch das lichte Unterholz gebahnt.
Endlich traten sie aus dem Dunkel des Waldes auf eine kreisrunde grasbewachsene Lichtung.
„Das muss sie sein“, sagte Stephan und schloss die Augen. „Irgendetwas ist hier anders als in der Umgebung.“
„Da ist eine Art Steinkreis“, sagte Rylee und deutete in die Mitte des Areals. Sie ging vorsichtig näher und blieb am Rande eines angedeuteten Kreises aus unregelmäßigen, etwa kopfgroßen Steinen stehen. Das Gras war hier kürzer, wirkte aber, als wäre es ausgerissen, statt maschinell geschnitten worden. In der Mitte des Kreises befand sich ein etwas größerer, flacher Stein, auf dem einige aus der Entfernung unidentifizierbare Gebilde lagen.
Stephan trat näher heran und nickte. „Das ist es, was ich eben gespürt habe. Eine von Menschen gemachte Stätte. Nur … wozu dient sie?“
Rylee sah sich beklommen um. Der Wald schien ihr auf einmal düster, und sie dachte an das Böse, das erst kürzlich versucht hatte, sie tiefer hinein zu locken. Ihre Hand umklammerte den Hüterinnenschlüssel in ihrer Tasche. Sie wünschte, Boh wäre jetzt hier, schalt sich dann jedoch. Stephan war bei ihr und wusste sich zu verteidigen. „Sind das Opfergaben?“, fragte sie und trat widerwillig über den äußeren Kreis. „Hoffentlich keine toten Tiere.“
Stephan schüttelte den Kopf. „Ich fühle hier keine dunkle Magie.“ Er bückte sich und betrachtete die Gegenstände auf dem Stein aus der Nähe. „Zusammengebundene Pflanzen, Nüsse und Früchte. Seltsam, dass sie noch nicht von Tieren weggeholt wurden. Vermutlich liegt tatsächlich eine Art Schutz darüber. Fühlst du etwas?“
„Außer einer Gänsehaut gar nichts. Aber das geht mir momentan im Wald immer so.“
Er richtete sich auf. „Aber was hat das mit Kairos zu tun? Wieso ist er hier auf der Lichtung ohne Erinnerung an sein vorheriges Dasein erwacht?“
Rylee sah sich ratlos um. „Vielleicht wurde hier mit Drogen experimentiert, und er erinnert sich deshalb an nichts.“
„Wenn ja, warum sollten sie ihn hier alleine zurücklassen?“
„Keine Ahn …“, begann Rylee und fuhr dann herum. „Was war das?“
Auch Stephan hatte das Geräusch eines knackenden Zweiges gehört und starrte in den Wald. „Jemand ist da draußen“, flüsterte er.
„Ein Tier vielleicht?“, fragte Rylee hoffnungsvoll, doch er schüttelte den Kopf.
Bevor Rylee ihn bitten konnte, die Lichtung zu verlassen und zum Haus zurückzugehen, sank Stephan mit einer geschmeidigen Bewegung in die Hocke und schloss die Augen. Eine geisterhafte Gestalt in Form eines grauen Wolfes löste sich aus seinem Körper und rannte Richtung Wald. Rylee hatte schon von der Geistergestalt der Schamanen gehört, sie aber noch nie in dieser Form erblickt. Staunend sah sie von Stephan, der unbeweglich verharrte, zu der davon rennenden Gestalt.
Nach etwa einer Minute, in der sie sich kaum zu regen wagte, um Stephan nicht abzulenken, kam der Geisterwolf aus dem Wald geschossen, rannte auf den Schamanen zu und verschmolz wieder mit ihm.
Stephan schüttelte sich, als würde er erwachen, öffnete die Augen und erhob sich mit einer fließenden Bewegung.
„Zwei Jugendliche verstecken sich da hinten in einem Gebüsch und beobachten uns“, sagte er leise.
„Vermutlich haben sie dich nicht gesehen, sonst wären sie wohl panisch davon gerannt“, sagte Rylee trocken. „Ich nehme an, Wölfe sind hier nicht allzu häufig und schon gar nicht durchsichtige.“
Er lächelte. „Das stimmt. Lass uns sehen, warum sie sich verstecken. Ich spüre, dass sie etwas mit dem, was wir hier gefunden haben, zu tun haben. Ich gehe links herum, du rechts.“
Rylee nickte zweifelnd. Sie hielt es für keine gute Idee, sich zu trennen, war jedoch neugierig, was das alles bedeutete.
Sie wandte sich nach rechts und stieß am Rand der Lichtung auf einen kleinen Pfad, der erst erkennbar war, als sie direkt vor ihm stand. Er war fast zugewachsen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er in letzter Zeit benutzt worden war. Ein kleiner Zweig war abgeknickt, und an einer Stelle war die Andeutung eines Fußabdrucks zu erkennen.
Sie folgte dem Pfad einige Meter in den Wald hinein, blieb dann stehen und lauschte. Sie nahm jedoch nichts wahr außer Vogelgezwitscher und dem Summen von Insekten. Plötzlich hörte sie links von sich ein lautes Rascheln und einen unterdrückten Schrei. Sie bog vom Pfad ab und bahnte sich einen Weg durch die Büsche.
„Ich habe sie!“, brüllte Stephan keine Sekunde später.
Sie fand ihn nur einige Meter weiter neben einem Haufen Findlinge. Seine rechte Hand hielt das Handgelenk eines mageren, etwa neunjährigen Jungen fest, die Linke den Oberarm eines noch magereren, höchstens dreizehnjährigen Mädchens. Beide trugen schmutzige Jeans und T-Shirts, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die des Mädchens waren rosa, die des Jungen hellblau. Obwohl einige Jahre zwischen ihnen zu liegen schienen, sahen sie sich so ähnlich, dass es sich bei ihnen um Geschwister handeln musste.
„Lassen Sie uns los!“, rief das Mädchen wütend und versuchte, ihren Arm aus Stephans Griff zu befreien. Ihre mausbraunen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht.
„Ganz ruhig“, sagte er und hielt sie mit Leichtigkeit fest. „Wir möchten nur wissen, was ihr hier macht und warum ihr euch vor uns versteckt.“
„Das geht Sie gar nichts an!“ Die Stimme des Mädchens war schrill. „Der Wald gehört Ihnen nicht!“
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