Stephan lächelte breit. „Das siehst du falsch. Ich habe gar nichts dagegen, dass ihr hier seid. Ich möchte aber wissen, was es mit der Lichtung auf sich hat.“ Er hielt sie weiter fest.
Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Der Wald gehört Ihnen?“
„Aber ja. Soll ich dir die Besitzurkunde zeigen?“
Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Ihr junger Begleiter wirkte so eingeschüchtert, dass Rylee Angst hatte, er würde in Ohnmacht fallen.
„Wir … wir haben nichts gemacht“, stieß er schließlich hervor.
Rylee hatte Mitleid mit den beiden traurigen Gestalten. „Sagt zuerst einmal, wie ihr heißt.“
„Ich bin Manuel“, sagte der Kleine und wies auf das Mädchen „Das ist meine große Schwester Milla.“ Sie funkelte ihn wütend an.
Rylee ignorierte sie und wandte sich an Manuel. „Wo wohnt ihr? Im Dorf?“
Der Junge drehte sich um und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Wir kommen aus Sprikewoog.“
Stephan fragte erstaunt. „Aber das liegt mindestens fünfzehn Kilometer in östlicher Richtung.“
„Na und?“, antwortete das Mädchen schnippisch. „Wir sind mit dem Fahrrad bis zum Wald gefahren. Da wohnt unsere Oma. Man läuft von dort aus nur etwa eine halbe Stunde bis hierher. Könnten Sie uns jetzt bitte endlich loslassen?“
„Versprecht ihr, nicht wegzulaufen?“
Während der Junge heftig den Kopf hob und senkte, nickte sie widerwillig. Stephan löste seinen Griff, ließ sie aber nicht aus den Augen. „Also, was ist an der Lichtung so interessant, dass ihr den weiten Weg auf euch genommen habt?“
„Sie ist verzaubert!“, stieß der Junge mit großen Augen hervor.
Rylee sah Stephan überrascht an.
„Was meinst du mit verzaubert?“, wandte er sich an den Jungen.
„Unsere Oma sagt, die Waldgeister leben hier. Und wenn man ihnen Opfer darbringt, helfen sie einem und machen einen außerdem reich. Ich habe Kastanienmännlein für sie gebaut und auf den Stein gelegt.“
Das Mädchen schnaubte höhnisch.
Stephan warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wenn du ihm nicht glaubst, warum bist du dann hier?“
„Hier gibt es doch keine Waldgeister“, sagte sie abfällig. Dann senkte sie die Stimme und sah sich nach allen Seiten um. „Die Lichtung gehört dem Teufel“, flüsterte sie.
Rylee betrachtete sie. Natürlich hatte sie schon von Teenagern gehört, die den Teufel anbeteten. Sie glaubte nicht, dass ein ernsthafter Wunsch nach Kontakt mit dem Satan dahinterstand. Vermutlich war es eher der Reiz des Verbotenen, der Grusel, der ihnen einen Kick verschaffte. Doch die Kids hier wirkten anders. Sie waren nicht angezogen wie Gruftis, in Schwarz und mit Totenkopfohrringen, nicht mit hellrosa Jeans und Sneakers.
„Ich glaube, wir sollten uns mit eurer Oma unterhalten“, stellte Stephan fest und sah Rylee fragend an. „Kommst du mit oder musst du zurück zum Haus?“
„Maj kommt gut zurecht“, antwortete Rylee, von Neugier getrieben. „Mich interessiert sehr, was hinter der Geschichte steckt.“
Stephan wandte sich den Kindern zu. „Wenn ihr mir sagt, wo genau eure Großmutter wohnt, könnt ihr von mir aus eures Weges gehen.“
Unter wütenden Blicken des Mädchens sagte der Junge gehorsam die Adresse auf. Nachdem Stephan sie losgelassen hatte, verschwanden die beiden wie der Blitz im Wald. Stephan und Rylee untersuchten akribisch die Lichtung, fanden jedoch außer dem Steinkreis nichts Außergewöhnliches. Es sah nicht aus, als würden viele Menschen hierher kommen. Das Gras war nur an wenigen Stellen niedergedrückt und obwohl die Erde an manchen Stellen feucht und lehmig war, hatten sich keine Fußspuren dauerhaft eingegraben.
„Ich frage mich, wieso die Lichtung nicht zuwächst“, sagte Rylee nachdenklich. „Sie sieht weitgehend unberührt aus, und müsste eigentlich im Laufe der Zeit zuwuchern. Aber die Büsche scheinen nicht über den Rand der Lichtung zu wachsen. Sie ist fast kreisrund, wie abgeschnitten. Als hätte sie jemand bewusst so angelegt.“
Stephan war einige Schritte am Übergang von der Lichtung zum Wald entlang gelaufen. „Ich spüre Magie, aber von einer Art, die ich nicht kenne. Sie fühlt sich für mich weder gut noch böse an. Ich glaube nicht, dass wir hier noch mehr herausfinden werden. Lass uns zu der Großmutter der beiden Kinder fahren.“
Schweigend liefen Rylee und Stephan zurück zum Haus und stiegen in seinen Wagen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie ins Dorf gefahren und dort auf die Straße nach Osten abgebogen waren. Kurz vor Sprikewoog zweigte ein schmaler Weg ab, der bald in einen unbefestigten Feldweg überging. Vor einem winzigen windschiefen Häuschen hielten sie an und stiegen aus. Auf der wackeligen Veranda saß eine weißhaarige kleine Frau in einem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie hob die freie Hand zum Gruß, nahm noch einen Zug und begrüßte sie dann mit kratziger Stimme. „Ich wusste, dass ihr mich eines Tages besuchen würdet.“
Rylee und Stephan sahen sich an. Dann traten sie näher an die wackelig wirkende Veranda. „Ihr wisst, wer wir sind?“, fragte Rylee.
Die Alte wies mit der Pfeife auf Stephan. „Den kenne ich nicht, aber Ihr seid das Mädchen, das das verwunschene Haus bewohnt.“
Rylee sah noch einmal unsicher zu Stephan. Dann blickte sie wieder zu der Frau. „Was meint Ihr mit verwunschen?“
Ein Kichern war die Antwort. „Stell dich nicht dumm, Mädchen! Einer alten Frau wie mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne das Haus seit Langem. Ja, ich weiß, dass es für andere normal aussieht, wenn sie es überhaupt sehen.“ Sie machte eine Pause und zog an der Pfeife. Rylee bemerkte, dass ihr keinerlei Rauch entströmte. Als hätte die Alte ihre Gedanken erraten, sagte sie: „Ich habe es mir abgewöhnt. Aber es passt einfach zum Image, findest du nicht?“ Bevor Rylee etwas sagen konnte, sprach sie weiter. „Im Dorf halten mich alle für eine Hexe!“ Sie kicherte wieder. „Was ich sagen wollte: Ich wusste nie, was es mit dem Haus auf sich hatte, aber ich wusste immer, dass es verzaubert ist. Als ich viel jünger war …“ Sie sah in die Ferne. „Das muss so Anfang des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Ich habe einmal versucht, es zu betreten.“ Sie rieb sich abwesend den Arm. „Es hat mich nicht hereingelassen.“
Dann sah sie Rylee direkt an. Ihr Blick schien unmittelbar in ihr Innerstes vorzudringen. „Was wollt ihr von der alten Theklia?“
Rylee hatte vor nicht allzu langer Zeit einen ganzen Hexenalkoven zu Gast gehabt. In dieser Zeit war die Freundschaft zu Evanora entstanden. War diese Hexe hier echt oder nur eine alte Frau, der es Spaß machte, sich mysteriös zu geben?
„Seid Ihr denn eine echte Hexe?“, fragte Rylee direkt und erntete abermals ein Kichern.
„Du weiß, wovon du sprichst, Kind. Aber sagt mir zuerst, was ihr hier wollt.“
Stephan übernahm die Antwort. „Wir sind im Wald auf Eure Enkel gestoßen und auf eine merkwürdige Lichtung. Sie waren wohl dort, um etwas zu beschwören, sind sich allerdings uneins, was. Manuel geht es um hilfreiche Waldgeister, während Milla mehr am Teufel interessiert ist.“
Die Alte wurde schlagartig ernst und fluchte. „Ich habe ihnen verboten, die Lichtung zu besuchen. Niemand weiß, was dort alles hervorkommt.“
„Nun“, sagte Stephan, „das mit dem Verbieten hat offensichtlich nicht geklappt. Sie haben Opfergaben im Steinkreis deponiert. Kurz darauf ist ein Mann in der Nähe von Rylees Haus erschienen, der nichts außer seinem Namen wusste. Er kam ganz offensichtlich von der Lichtung. Was wisst Ihr darüber?“
„Wovon sprecht Ihr?“, fragte sie und gab sich erstaunt. „Ich war seit Jahrzehnten nicht an diesem Ort. Früher erzählte man, dort sei die Grenze zwischen unserer Realität und anderen Welten äußerst dünn und könnte durchbrochen werden. Aber das Wissen darum ist lange vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht mit meinen Urenkeln darüber sprechen sollen. Ich hätte mir denken können, dass meine Warnung sie erst recht dazu bewegt, dorthin zu gehen.“
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