Noch bevor sie zum Telefon gegriffen und Gregor und Borwinkel angerufen hatte, hatte sie nämlich Gargosian eine Mail geschrieben. Sie wusste, dass er der Gesellschaft mehr als kritisch gegenüber stand und ihr den Rücken stärken würde.
Sie verzichtete diesmal darauf, ihr Hüterinnenornat anzulegen, um Antrax nicht mehr Bedeutung zuzumessen, als ihm ihrer Meinung nach zukam. Stattdessen benutzte sie das Portal zum Hauptbüro der Gesellschaft in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen. Sie erntete einen irritierten Blick der Empfangsdame, der jedoch sofort in ein professionelles Lächeln überging. „Hüterin Montgelas, haben Sie einen Termin mit Leiter Antrax?“
„Nein“, antwortete Rylee knapp.
„Dann weiß ich nicht … Leiter Antrax ist immer sehr beschäftigt.“ Das professionelle Lächeln war etwas verblasst.
„Ich bin sicher, er wird mich sehen wollen“, sagte Rylee selbstsicher. „Und zwar umgehend. Ich bin nämlich auch sehr beschäftigt.“
Die Empfangsdame öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn dann wieder und zögerte. Endlich nicke sie und wies zu einer Sitzgruppe.
„Bitte nehmt dort Platz. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Ich bleibe stehen“, sagte Rylee. „Ich bin sicher, es dauert nicht lange.“
Wortlos verschwand die Frau durch eine unscheinbare Tür und erschien kaum eine Minute später wieder. „Leiter Antrax hat jetzt Zeit für Sie.“
Rylee nickte hoheitsvoll und folgte ihr durch die Tür in ein kleines, nüchtern eingerichtetes Büro, das in direktem Gegensatz zu dem üppig ausgestatteten Raum stand, in dem er sie noch vor wenigen Tagen empfangen hatte.
Sein Lächeln war ebenso breit wie bei ihrem letzten Besuch, erschien ihr heute jedoch gezwungen.
„Miss Montgelas, was für eine Überraschung“, sagte er und bot ihr einen Platz auf einem einfachen Stuhl an. Sie überlegte kurz, ob sie auf der Anrede Hüterin bestehen sollte, verzichtete jedoch darauf.
„Leiter Antrax“, begann sie höflich. „Ich habe ein Anliegen, das keinen Aufschub duldet.“
„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir uns nicht an der Rettungsmission …“
„Die Rettungsmission wurde erfolgreich durchgeführt“, fiel sie ihm ins Wort. „Die Hüterin ist befreit und in Sicherheit.“
„Oh“, stieß er hervor. „Das ist ja …, also, was soll ich sagen? Das ist fantastisch! Wie habt Ihr es bewerkstelligt?“
„Ich hatte Unterstützung.“ Ihr Ton machte deutlich, dass sie nicht vorhatte, mehr darüber zu sagen.
„Gut, gut. Und die Wächterin?“
„Wird bei mir leben, solange sie es wünscht. Aber deshalb komme ich nicht.“
Antrax beugte sich vor. „Was verschafft mir dann die Ehre?“
„Die Gesellschaft hat vor etwa fünfzehn Jahren zwei Hütern ihr Haus auf Aldibaran weggenommen und sie in die Verbannung geschickt.“ Rylee sah, dass Antrax etwas sagen wollte, und hob die Hand. „Ich weiß sehr wohl, dass Ihr damals nicht beteiligt wart, aber das ist jetzt auch einerlei. Einer der Hüter hatte sich tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen. Er ist jetzt tot, aber sein Bruder lebt und konnte sich aus der völlig zu Unrecht erfolgten Verbannung befreien. Er hat ein neues Haus geschaffen und trägt seine Essenz mit sich.“
„Wo ist er?“, wollte Antrax wissen.
„Er ist in meinem Haus und steht unter meinem Schutz. Aber die Essenz wird sterben, wenn er nicht bald einen neuen Platz bekommt, um sich anzusiedeln.“
„Ich sehe, worauf das hinausläuft“, sagte Antrax säuerlich. „Ich würde sicher einen Platz finden, sofern es zutrifft, dass der Hüter würdig ist, aber ich befürchte, Ihr habt etwas anderes im Sinn, eine schnellere Lösung.“
Rylee nickte. „Ihr begreift rasch, Leiter Antrax. Ich möchte, dass er sein Haus an der Stelle des Hauses Bayern errichten darf, das mein guter Freund Gregor mit sich nehmen wird.“
Antrax lehnte sich zurück und sah sie abschätzend an. „Nur damit ich es richtig verstehe“, sagte er. „Warum sollte ich das tun? Die Stelle ist dem Sohn eines unserer verdientesten Hüter versprochen worden.“
„Weil die Gesellschaft Percival großes Unrecht zugefügt hat, und ich es jedem aber auch jedem erzählen werde, wenn sie nicht versucht, es auf diese Weise wieder gut zu machen. Und wie wichtig Euch Euer Ruf ist, habt Ihr mir ja beim letzten Mal gezeigt.“
„Aber Miss Montgelas …“, begann er. „Sie werden mir doch nicht nachtragen, dass ich abgelehnt habe, einen der reichsten Männer der Galaxis zu verärgern, nur aufgrund eines Hirngespinstes.“
„Wir beide wissen doch inzwischen, dass es kein Hirngespinst war“, sagte Rylee freundlich. „Und was den reichen Mann betrifft: Es liegt auch ihm sehr am Herzen, dass die Angelegenheit auf diese Weise bereinigt wird.“
Antrax´ Blick flackerte. „Was für ein Interesse sollte Gargosian an diesem Hüter haben?“
Rylee zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche. „Wir können ihn fragen.“ Bevor der verblüffte Antrax reagieren konnte, hatte sie die Nummer des Millionärs gewählt und hielt Antrax das Telefon hin.
Mit versteinertem Gesicht hörte er zu, was Gargosian ihm sagte.
„In Ordnung“, sagte Antrax schließlich und gab Rylee das Telefon zurück.
„Sie sind weit gekommen“, sagte er mit tonloser Stimme. „Ich werde sofort eine Übertragungsurkunde aufsetzen lassen. Ihr Freund kann sein Haus pflanzen, sobald Haus Bayern umgesiedelt worden ist.“
Rylee bedankte sich höflich und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie nickte der Empfangsdame zu und schritt in das Portal.
Percival starrte sie schweigend an, als Rylee ihm den Vorschlag unterbreitete. Sie hatte ihn im Garten gefunden, wo er die letzten Handgriffe am neu errichteten Hühnerstall ausführte.
Sie wartete einen Moment und wiederholte, als er nichts sagte: „Du kannst dein Haus in Bayern errichten. Oder möchtest du nicht auf der Erde leben?“
Wieder kam keine Antwort. Rylee trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. „Percival? Ich kann Antrax auch fragen, ob es eine andere Möglichkeit gibt.“
Percival starrte sie an und schluckte. Dann fragte er langsam. „Ist das wahr? Meinst du es wirklich ernst?“
Bevor sie nicken konnte, riss er sie in die Arme. Seine nächsten Worte wurden von Schluchzern unterbrochen. „Ich hatte solche Angst, dass ich keinen Platz finde und Heaven sterben würde.“
Rylee tätschelte ihm den Rücken. „Das hätten wir nicht zugelassen“, versicherte sie. „Ich hoffe, dass ihr euch in Bayern wohlfühlen werdet, Heaven und du. Es kann sich nur noch um wenige Tage handeln, bis Gregor alles fertig hat.“
Percival löste sich von ihr und blickte verlegen zu Boden. „Ein paar Tage hält Heaven noch durch“, sagte er leise. „Ich bin dir so dankbar.“
„Davon will ich nichts hören“, erklärte Rylee und machte eine abwehrende Handbewegung. „Haus Bayern ist das mir am nächsten liegende Haus. Nicht auszudenken, wenn die Gesellschaft da irgendeinen grässlichen Hüter hingesetzt hätte, der mich als Konkurrenz empfindet, nur weil ich ein Portal habe.“ Sie sah den jungen Hüter besorgt an. „Ich hoffe, du hast kein Problem damit. Natürlich reisen jetzt viele über Securus Refugium ein, weil die Reise mit dem Portal so viel einfacher ist. Außerdem liegen wir neben dem einzigen Raumhafen der westlichen Hemisphäre. Aber Haus Bayern hatte trotzdem Gäste, und vielleicht könnten wir irgendwie zusammen arbeiten.“
Er atmete tief ein. „Solange ich einen sicheren Platz für Heaven habe, bin ich zufrieden. Und ich würde nichts lieber, als mit dir zusammen zu arbeiten. Ich hoffe nur, dass ich auch etwas in diese Zusammenarbeit einbringen kann.“
„Das wirst du sicher“, sagte Rylee abgelenkt, weil sie jemanden am Gartentor fühlte. Die Signatur war ihr unbekannt und hatte etwas Merkwürdiges. Sie überließ Percival seinem Hühnerstall und eilte in den Vorgarten. Vor dem Tor stand ein etwa dreißigjähriger Mann, der auf den ersten Blick menschlich aussah und etwas verloren wirkte.
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