Aber wir können die maximale Anzahl an Lebensjahren nur erreichen und möglichst lange gesund erleben, wenn wir versuchen die Risikofaktoren, die uns frühzeitig krank und invalide werden lassen, vermeiden oder wenigstens minimieren. Es kommt also darauf an, die gesunde Lebensspanne innerhalb unserer gegebenen Lebenszeit bei guter Lebensqualität im Alter zu verlängern.
Manche unter uns können sich trotz Aufklärung und Warnung über die Risiken nicht von lieb gewonnenen, aber ungesunden Gewohnheiten trennen. Sie vertrauen auf die Fortschritte der Medizin und sind enttäuscht und verzweifelt, wenn es nicht klappt, und sie trotz aller Medikamente leiden müssen. Einige sind verwundert, dass bei ihnen schon in jungen Jahren Gefäßablagerungen gefunden werden. Nicht wenige hadern mit ihrem Schicksal, wenn sie schon der Schlag getroffen hat. Wenn sie herausgerissen wurden aus dem Leben. Wenn sie erkennen, dass nichts mehr so ist und sein wird, wie es war. Aber auch dann sollte es auch noch nicht zu spät sein für ein lebenswertes Leben. Programme zur angepassten Bewegung, Umstellung der Ernährung, Hilfe aus der Natur oder Medikamente sind optimale Begleiter zur Überwindung der Behinderung. Natürlich ist nicht jeder Schuld an seiner Krankheit. Der Schlaganfall durch ein geplatztes Aneurysma im Gehirn, ein plötzlicher Herztod oder Krebs schon in jungen Jahren sind Beispiele für ein trauriges, unbeeinflussbares Schicksal.
Viele von uns rennen aber blindlings in ihr Unglück. Rennen ist vielleicht der falsche Ausdruck, denn ein Großteil leidet unter Bewegungsmangel, der „sitzenden Krankheit“. „Sitting disease“ist das neue Rauchen. Wer viel sitzt, stirbt früher. Der Körper muss bewegt werden wie ein Auto. Wenn er stillsteht, dann verrostet er. Der schlimmste Gau ist der Motorschaden in unserer Brust und die Verkalkung unserer Gefäße. Leiden, die frühzeitig ihren Anfang nehmen und die wir nicht immer vermeiden, aber immer hinausschieben können.
Weisheit wissen
Kann man Weisheit mit dem Löffel essen ? „Brainfood“ aus der Dose, eingehüllt in einer Kapsel, zum Schlucken bereit ? Fast jeder weiß, dass man Weisheit nicht konsumieren kann, obwohl es mancher nötig hätte. Dennoch kann man ohne ausgeglichene Ernährung nicht weise werden. Mangelerscheinungen und Nahrungsdefizite führen nicht zur Erleuchtung. Allein unser Gehirn benötigt fast ein Fünftel des täglichen Energiebedarfs. Ohne Hirn gibt es keine vernünftige Erkenntnis. Wir können uns aber mit den besten Nahrungsergänzungsmitteln (und Diäten) nicht schlauer essen. Es gehört offensichtlich mehr dazu, als nur unser Gehirn anzutreiben. Was also, bitteschön, ist er, der Schlüssel zur Weisheit ? Ist es nur das Alter, die Erfahrung, strategisches Denken, Gelassenheit in prekären Situationen, Überwindung persönlichen Versagens oder die Bewältigung von Schicksalsschlägen ? Wahrscheinlich ist es ein komplexes System von Eigenschaften. Strategie und Schielen auf den kurzfristigen Vorteil kann geschult werden, Weisheit aber kann man nicht lernen. Sie muss erworben werden, um sie zu besitzen. Erst der Charakter formt den Menschen. Er verlangt, dass wir nicht nur unser eigenes Wohlergehen in den Vordergrund stellen, sondern synergistisch zum nachhaltigen und allgemeinen Vorteil handeln. Ein Beispiel ist der Klimawandel, der zurzeit in aller Munde ist. Verzicht auf CO 2-Ausstoß (weniger Flugreisen, Autofahren etc.) ist Einschränkung für den Einzelnen, kann aber beitragen zum Überleben des Menschen und der Welt, so wie wir sie kennen. Der Einzelne vermag weniger zu leisten, als ein Team. Interdisziplinäres Wissen zunutze machen führt meist auch zum Vorteil für den Einzelnen. Ein Beispiel ist der Patient. Wird er von mehreren Ärzten aus verschiedenen Fachgebieten („interdisziplinär“) beraten und werden Therapien nicht nur durch Einzelmeinungen entschieden, profitiert seine Gesundheit und sichert manchmal sogar sein Überleben. Soll man operieren, oder vielleicht doch besser nicht, und wenn, mit welcher Methode ?
„Das ist der Weisheit letzter Schluss:/ nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/ Der täglich sie erobern muss.“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Gibt es Altersweisheit überhaupt ? Das Ansammeln von Jahren allein wie ein hochbetagter Greis macht für sich noch nicht weise. Was ist es dann, was die Welt (noch) zusammenhält ? Wird man weise, wenn die ersten „Hitzewallungen“ und die „midlife-crisis“ überstanden sind ? Sicher gilt Weisheit allgemein als Lebensziel. Was gehört also dazu ? Es sind zunächst zwei Formen von Intelligenz, die wir nur allmählich erwerben können. Zum einen das Faktenwissen, also Allgemeinwissen, Schulbildung, Vokabelwissen, Menschenkenntnis, glückliche und leidvolle Erfahrungen („kristalline Intelligenz“; eine Intelligenzform, die im Gehirn als Tatsachenwissen festgeschrieben ist) und zum zweiten jene Intelligenzform, die mehr geprägt ist durch die Fähigkeit, geschickt zu kombinieren, logisch zu denken und Probleme zu lösen („fluide Intelligenz“).
Bei der Jagd nach Jugend – viele gehören in unserer Gesellschaft mit 50 Jahren schon zum Auslaufmodell – vergessen wir, dass ältere Mitarbeiter auf einen reichhaltigen Erfahrungsschatz zurückgreifen und einen wertvollen Beitrag für ein Unternehmen leisten können. Die „fluide Intelligenz“, also die Fähigkeit des Lernens und Denkens als Ausdruck der geistigen Flexibilität, die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung, nimmt zwar im Alter nicht mehr zu und erreicht schon früh einen Punkt der Sättigung. Die „kristalline Intelligenz“hingegen, also die Fähigkeit komplexe Aufgaben zu lösen, die emotionale Intelligenz (Ursachen von Gefühlen wie Liebe, Hass, Neid etc. zu verstehen und damit emotionale Konflikte vermeiden) und die Sprachfähigkeit, Fachwissen und soziale Kompetenz, zeigen einen exponentiellen Anstieg mit den Jahren. Ältere können häufig bessere Lösungen finden, indem sie diese mit gespeicherten und bewährten Erfahrungen und Mustern („kristalline Intelligenz“) vergleichen, während der „Jungspund“ zum Schnellschuss neigt und Lösungen nur Schritt für Schritt parat hat.
Was ist Weisheit? Der „Weisheitsforscher“ Paul B. Baltes (1939–2006; „Berliner Altersstudie“), Mediziner und Psychologe und einer der führenden Gerontologen weltweit, hat die fünf grundlegenden Säulen der Weisheit definiert: Es sind die Eigenschaften und Fähigkeiten wie praktisches Wissen und Faktenkenntnis (keine „fake news“), Denken in größeren Zusammenhängen („Kontext“), Duldsamkeit („Toleranz“) gegenüber anderen Meinungen und Werten sowie der Umgang mit Unsicherheit wie z. B. Existenzbedrohung. Im „Berliner Weisheitsmodell“ hat man herausgefunden, dass Weisheit nicht unbedingt ein Privileg des Alters ist. Bloß alt werden heißt nicht klug und weise zu werden.
Michael Linden (* 1948), deutscher Arzt und Psychologe von der Charité, spricht sogar von der „posttraumatischen Verbitterungsstörung“, ein Trauma z. B. in der beruflichen Entwicklung, wenn einem eine aussichtsreiche Stelle oder Stellung verwehrt und ein anderer vorgezogen wurde, eine Scheidung oder Erbstreitigkeiten im engsten Familienreis. Scheinbare Ungerechtigkeiten, an denen man immer nagt und die man niemals vergisst. Den Gram über verpasste Gelegenheiten oder schmetternde Niederlagen zu überwinden und trotzdem ein Lächeln zu zaubern auf seine Lippen – das ist Weisheit für mich. Der Weg zur Weisheit ist steinig und der Weg zur Wahrheit mit Irrtümern gepflastert. Wer sein Schicksal akzeptiert, nimmt dem Übel die Kraft. Denken wir daran, wenn wir älter werden. Weisheit besteht aus einem Bündel von Eigenschaften. Wir müssen die Fähigkeit, Weisheit zu erlangen, nur trainieren und kultivieren. Wir sollten versuchen, trotz mancher Rückschläge und körperlicher Beeinträchtigungen, unser Leben so einzurichten, dass es für uns Sinn macht und uns ein positives Selbstgefühl verleiht. Alter ist kein Garantieschein für Lebensweisheit. Ein Weisheitsrezept für alle gibt es nicht. Jeder sollte zu seiner eigenen Weisheit gelangen und versuchen trotz Lebenskrisen, durch die man gehen muss, zu guten Lösungen kommen. Mag uns der große Afrikaner, Nelson Mandela, ein Vorbild sein. Zählen nicht auch ältere Dirigenten oder Komponisten zu den besten ?
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