Es klingelte. Teichmann kam herein, schleuderte mit Schwung seine Schultasche auf das Pult und blieb einen Augenblick bewegungslos stehen. Auge in Auge mit seinen Schülern versuchte er, sie wie ein Raubtierdompteur nur durch seinen Blick zur Ruhe zu zwingen. Sein Lieblingstrick, auch heute funktionierte er.
„Guten Morgen zusammen!“
„Guten Morgen Herr Dr. Teichmann!“
Das war ein Unterrichtsbeginn nach seinem Geschmack. Die Klasse gönnte ihm diesen Triumph, denn sie wusste, dass seine Laune dadurch um einiges besser wurde.
„Wir haben uns vorgenommen, noch einmal über die Burg zu sprechen, ihr solltet auf Grundlage der Broschüre eine Zusammenfassung der Besichtigung schreiben. Ach ja, Lotte, von dir bekomme ich noch die Arbeit über die Geschichte des Bergfried unter besonderer Berücksichtigung der Pechnasen.“ Er näherte sich ihrer Sitzbank. Lotte kramte in ihrer Schultasche und zog zwei eng beschriebene Seiten hervor. Sie hatte sie kurz vor dem Schlafengehen verfasst.
„Vielen Dank“, sagte Teichmann, „ich hoffe, du bist jetzt schlauer geworden.“
„Geht so“, antwortete Lotte. Ihr Blick folgte ihrem Lehrer, der zurück zu seinem Pult ging.
„Hast du gehört?“, flüsterte Lotte.
„Was denn?“, fragte Doro ärgerlich, denn sie wollte heute bei Teichmann auf keinen Fall unangenehm auffallen.
„Er hat gesagt wir haben uns vorgenommen, er schließt mal wieder von sich auf andere.“
„Kann schon sein, aber das sagen doch alle Lehrer, jetzt lass mich in Ruhe, sonst kriegen wir gleich wieder Ärger!“
„Dorothee, lies bitte vor, was du geschrieben hast!“
Sie hatte es geahnt, schon wieder war sie dran. Sie holte tief Luft, sah Lotte noch einmal böse an und begann stockend ihre Hausaufgabe vorzutragen.
„Etwas lauter bitte, hier vorne bei mir kommt gar nichts an.“
Dr. Teichmann legte demonstrativ eine Hand an sein Ohr.
„Lächerlich!“, zischte Lotte durch die Zähne. „Der versteht doch jedes Wort.“
„Was hast du gesagt, Lotte?“, fragte Teichmann herausfordernd.
„Nichts, ist schon gut.“
„So, so. Lies weiter, Dorothee!“
Die Stunde wollte und wollte nicht vergehen, aber nach einer kleinen Ewigkeit klingelte es schließlich doch.
„In der nächsten Stunde werden wir einen Test über die wichtigsten Daten und Fakten zur Burggeschichte schreiben. Bereitet euch also vernünftig vor!“
In der Pause war Doro immer noch ärgerlich.
„Hast du eigentlich schon gemerkt, dass Teichmännchen mich immer dann drannimmt, wenn du mir was zuflüsterst?“
„Tut mir leid.“ Lotte hatte ein schlechtes Gewissen.
Die folgenden Stunden verliefen normal. Kunst, Musik und Englisch, da war sogar Zeit schon mal Hausaufgaben für den nächsten Tag zu machen und sich zu unterhalten. Lotte war ein bisschen eifersüchtig, denn Doro redete fast mehr mit Tom als mit ihr.
Nach der Schule erklärte Lotte zuhause, warum sie mit Doro nach Bad Bentheim fahren wollte. Ihre Eltern hatten keine Einwände und fanden es logisch, dass sie für ein Referat noch weitere Informationen benötigten. Also schwang sie sich nach dem Essen auf ihr Rad und fuhr zum Bahnhof.
Schon an der Ampel sah sie Doro an der Bushaltestelle auf der anderen Seite der Kreuzung stehen. Lotte war aufgeregt, denn in einer knappen Dreiviertelstunde würde sie Dietlinde wiedersehen und Doro hoffentlich endgültig überzeugen können. Sie überquerte die Straße und stellte ihr Rad in den Fahrradständer, direkt vor dem griechischen Restaurant, das in dem Bahnhof untergebracht war.
„Hi, wartest du schon lange?“
„Nö, bin auch gerade erst hier“, antwortete Doro, „aber du bist superpünktlich, da kommt der Bus.“
Mit vielen anderen Schülern, die meisten aus der nahe gelegenen Berufsschule, drängelten sie sich hinein. Die Fahrt war ziemlich unbequem, weil sie fast bis zum Schluss stehen mussten.
„Hör mal, wenn deine Dietlinde gleich nicht auftaucht, dann fahren wir nach Hause, und du redest nicht mehr über diese Zeitreise und so, klar?“, sagte Doro, nachdem sie ausgestiegen waren.
„Klar“, antwortete Lotte, „sie kommt bestimmt, verlass dich drauf.“ Aber was wäre, wenn Dietlinde tatsächlich nicht auftauchte? Dann würde Doro sie endgültig für verrückt erklären. Und was sollte sie Dietlinde sagen? Lotte wusste immer noch nicht, ob sie ihr und den Bentheimern im Kampf gegen Grimmbert wirklich helfen sollte.
„Da wären wir“, murmelte sie mehr zu sich selbst, als sie mit Doro in der Katharinenkirche stand und auf ihre Armbanduhr sah. „Es ist kurz vor drei. Komm, jetzt schnell zur Kanzel.“
Sie wollten gerade die Stufen hinaufspringen, als eine Touristengruppe die Kirche betrat.
„Was macht ihr da? Das ist kein Ort zum Spielen!“, rief eine Frau, offenbar die Burgführerin.
„Wir, ich, … eigentlich wollten wir uns die Kanzel mal angucken“, stotterte Lotte.
„Da gibt es nichts Interessantes zu sehen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch uns anschließen, falls ihr Englisch versteht.“
Zögernd stellten sich die Mädchen zu den Touristen, sie kamen aus den USA und sahen aus wie eine Weightwatcher-Gruppe auf Urlaub, fast alle waren mehr als kräftig gebaut. Die Frauen trugen große, weite Blusen und Röcke, in die Doro und Lotte fünfmal hineingepasst hätten, die massigen Männerkörper wurden eher schlecht als recht von Hemden und Hosen in mehrfacher Übergröße bedeckt.
„Oh, how nice, little German girls.“ Freundlich tätschelte eine Frau Doros Gesicht. „Where do you come from?“, fragte sie im breiten amerikanischen Englisch.
Hilfesuchend sah Doro Lotte an. „Was hat sie gesagt?“
„Sie will wissen, woher du kommst“, übersetzte Lotte.
„Aha, ehm, … I am from Nordhorn“, stammelte Doro.
„From what?“, fragte eine andere, deren Körperform an ein Bierfass erinnerte.
„Nordhorn!“, wiederholte Doro lauter, als hätten die Frauen Probleme mit den Ohren.
„Du musst leise sein, sonst kann ich nicht erklären“, mischte sich die Führerin mit strenger Stimme ein.
„Take a chewing-gum“, grinste das wandelnde Bierfass und hielt Doro und Lotte ein Pfefferminzkaugummi entgegen. Die Mädchen bedankten sich für das Kaugummi und schoben es sich in den Mund.
Lotte wurde unruhig.
„Mist, es ist drei, was machen wir denn jetzt?“, zischte sie Doro zu. „Irgendwie müssen wir auf die Kanzel, sonst verpassen wir Dietlinde.“
„Pass auf, ich hab eine Idee. Ich fall gleich in Ohnmacht, wenn sich die Dicken dann um mich kümmern, hast du deine Chance!“
„Du fällst in Ohnmacht? Die merken doch sofort, dass du nur so tust “, flüsterte Lotte aufgeregt, aber Doro blieb ganz ruhig.
„Es wird schon klappen, wir treffen uns später wieder hier.“
Als die Burgführerin gerade etwas über die doppelte Holzmadonna erzählte, die von einem der schweren dunklen Dachbalken an einer langen Kette herabhing, sackte Doro mit einem lauten Seufzer zu Boden. Ihr Ohnmachtsanfall wirkte so echt, dass Lotte sich trotz Doros Ankündigung Sorgen machte und sich ängstlich über sie beugte.
„Fleh um Hilfe!“, zischte Doro ihr zu, aber das war gar nicht nötig. Wie eine Herde Elefanten sammelten sich die Dicken um die scheinbar ohnmächtige Doro.
„Please, sie muss nach draußen, outside“, bat Lotte jetzt, „... help me!“
Die Kaugummispenderin bückte sich, schob ihre Arme unter Doro und hob sie, als sei sie leicht wie eine Feder. Dann wandte sie sich dem Ausgang zu. Die anderen folgten ihr, auch die Burgführerin verließ die Kapelle.
Lotte blieb allein zurück. Staunend genoss sie für einen kurzen Augenblick die Stille, dann lief sie schnell zur Kanzel.
„Dietlinde, Dietlinde, bist du noch da? Ich …!“
Читать дальше