„Herr Dr. Teichmann, ich …“
Er beachtete sie überhaupt nicht, kein Anzeichen von Überraschung, Ärger oder Enttäuschung. Oder wollte er sie bewusst übersehen?
„War gar nicht schlecht, die Burgführung“, meinte Doro, als sei Lotte gar nicht weg gewesen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein, der Zeitzauber. Und dass sogar Doro nichts bemerken würde, hatte Dietlinde auch vorausgesagt.
Lotte seufzte erleichtert. „Hast recht, aber ich schätze, du meinst bestimmt nicht nur die Besichtigung“, antwortete sie.
„Vielleicht.“ Doro grinste.
„So, Kinder, nun bin ich mit meiner Führung am Ende, ich hoffe, sie hat euch gefallen.“ Mit einem Seitenblick auf Dr. Teichmann fügte Franz Somberg hinzu: „Gutes Gelingen bei der Hausaufgabe, die Broschüre bekommt ihr gleich an der Kasse.“
Nach einer kühlen Verabschiedung von dem Burgführer steuerte Dr. Teichmann dem Ausgang entgegen, langsam gefolgt von seiner Klasse.
*
Doro strahlte jetzt über das ganze Gesicht. Sie plauderte mit Tom, der wieder hinter ihnen saß, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Lotte kannte sie fast nicht wieder.
„Warum guckst du so?“, fragte Doro, als Tom sich gerade mit seinem Sitznachbarn unterhielt.
„Nur so“, log Lotte. „Machen wir heute Nachmittag die Burgbeschreibung zusammen? Ich glaube, wir haben morgen schon wieder bei Teichmann. Außerdem muss ich ja noch die Strafarbeit schreiben. Und ein bisschen zu erzählen gibt’s ja auch noch, oder?“, fügte sie mit Blick nach hinten hinzu.
„Sei nicht so neugierig“, antwortete Doro. „Gegen drei? Dann sind bei uns alle weg, meine Schwester hat Training und Mama und Papa sind arbeiten.“
Lotte nickte. Sie beschloss Doro am Nachmittag von der Zeitreise zu erzählen. Denn wem, wenn nicht ihrer besten Freundin, sollte sie diese Geschichte sonst anvertrauen?
„Teichmännlein hat die Burgführung wohl nicht so gut gefallen.“ Toms Gesicht tauchte zwischen den Rückenlehnen ihrer Sitze auf. Mit einem breiten Grinsen wies er auf Dr. Teichmann, der vorne neben dem Fahrer saß und schweigend aus dem Fenster sah.
Lotte gönnte ihm die schlechte Laune. Jetzt war sie gefahrlos, denn die Führung war zu Ende, und Hausaufgaben hatte er schon aufgegeben.
„Endlich hat ihm mal jemand gezeigt, wo’s lang geht“, meinte Doro. Lotte fiel auf, dass sie kaum nuschelte und überhaupt nicht rot wurde.
„Der Burgführer war nett“, sagte Lotte.
„Stimmt, und er hat gut erklärt“, nickte Tom.
Auf der Straße kam ihnen der Bus mit der Nordhorner Handballmannschaft HSG entgegen. Die Jungs, die ihn zuerst entdeckten, fingen sofort an aus Leibeskräften den Vereinsschlachtruf zu brüllen. Eigentlich ein Fall für Dr. Teichmann, aber nicht mal jetzt sagte er etwas und starrte einfach weiter aus dem Fenster. Erst als sie die Schule erreicht hatten, erinnerte er über das Bordmikrofon noch einmal an die Hausaufgabe. Während Lotte und Doro zu ihren Rädern auf dem Schulhof gingen, klingelte es. Kurze Zeit später öffneten sich die Türen, und das Schulgebäude spuckte Hunderte von Schülern aus.
„Ich habe vielleicht einen Hunger“, meinte Doro, als sie ihr Fahrrad aufschloss.
„Bei uns kocht Papa, ich schätze, es gibt Nudeln mit Tomatensoße, kannst ja mitkommen“, antwortete Lotte.
„Nö, wir lassen es lieber bei der Verabredung um drei.“ Die Mädchen bestiegen ihre Räder und machten sich auf den Heimweg.
Lotte hatte recht. Als sie nach Hause kam, roch sie schon die frische Tomatensauce, wie immer hatte ihr Vater mit viel Knoblauch gekocht und einen riesigen Salat gemacht. Er hatte Urlaub und liebte es dann seine Familie zu versorgen. Lotte ließ ihre Tasche im Flur fallen und ging in die Küche.
„Hallo mein Schatz, du kommst genau richtig, das Essen ist gerade fertig.“ Er stand vor dem Herd und war mit den Spaghettis beschäftigt.
„Ist Paul noch nicht da?“ Ihr großer Bruder hatte dienstags eigentlich auch nach der sechsten Stunde frei.
„Nein, er hat noch ein Treffen wegen der Schülerzeitung“, antwortete ihr Vater. Er goss das Wasser ab und füllte die Nudeln in eine Schüssel. Lotte lief schnell ins Badezimmer und wusch ihre Füße, an denen noch der Dreck aus dem Mittelalter klebte. Dann setzte sie sich an den Tisch, während ihr Vater die Soße holte.
„Wie war’s in der Burg?“, fragte er.
„Ich hatte Stress mit Teichmann, er hat’s richtig auf mich abgesehen“, antwortete Lotte mit vollem Mund.
„Was ist passiert?“
Nachdem sie ihm die Geschichte erzählt, aber wohlweislich die Zeitreise und ihre eigenen Frechheiten ausgelassen hatte, war ihr Zorn schon fast wieder verraucht. Herr Lehmann grinste, denn so, wie er seine Tochter kannte, vermutete er zu Recht, dass sie nicht ganz unschuldig gewesen war.
„Wie sieht’s mit den Hausaufgaben aus?“
„Wir müssen einen Aufsatz über die Burg schreiben. Ich geh nachher zu Doro, wir wollen zusammen arbeiten.“
„Dann legt euch mal ins Zeug, vielleicht lässt sich Dr. Teichmann dadurch wieder beruhigen.“
„Das ist mir so was von egal!“, stieß Lotte zwischen zwei Löffeln Spaghetti hervor. „Ich lege echt keinen Wert darauf, den zu beruhigen.“
„Ein bisschen mehr Diplomatie könnte nicht schaden“, versuchte ihr Vater zu beschwichtigen.
Lotte musste tief durchatmen. „Erst tut Papa so verständnisvoll, und dann kommt er mir nur mit klugen Ratschlägen“, dachte sie wütend. Sie spürte, wie ihr Zorn wieder erwachte, aber jetzt auf ihren Vater. „Meine Güte, Papa, das verstehst du nicht!“ Sie knallte die Gabel auf den Teller, schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
„Was hab ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?“, fragte Herr Lehmann erstaunt. „Darf man dir denn keinen Tipp mehr geben?“
„Du könntest ja einfach mal sagen, dass du Teichmann auch bescheuert findest“, fauchte Lotte.
„Wo willst du hin?“
„Zu Doro!“
Sie ging in den Flur, schnappte ihre Schultasche und knallte die Haustür hinter sich zu. Es war immer das Gleiche. Sie kannte die Geschichten aus der Schulzeit ihres Vaters, er hatte sie oft genug stolz erzählt. Wenn sie selbst jedoch Ärger mit Lehrern hatte, tat er so, als sei es das Beste, die Klappe zu halten.
Wütend bestieg sie ihr Rad, aber es war noch zu früh, um zu Doro zu fahren. Also radelte sie ein bisschen an der Vechte entlang, dem kleinen Fluss, der Nordhorn in westlicher Richtung verließ. An einer Bank hielt sie an, es tat gut am Ufer zu sitzen und auf das träge fließende Wasser zu starren. Kurz vor drei machte sie sich auf den Weg.
„Was machst du denn für ein Gesicht?“, sagte Doro, als sie die Haustür öffnete.
„Ich hasse Papa, er ist ein alter Besserwisser. Erwachsene sind irgendwie alle gleich.“ Lotte berichtete kurz, was geschehen war. „Lass uns jetzt lieber über was anderes reden“, fuhr sie fort, „ich hab keine Lust mehr mich aufzuregen.“
„Meinetwegen.“ Doro holte die Broschüre über die Burg aus ihrem Rucksack und begann zu lesen. „Da steht so viel drin, ich hab keine Ahnung, wo wir anfangen sollen“, stöhnte sie.
„Ich schon“, sagte Lotte gedehnt.
Doro schaute sie erstaunt an. „Was meinst du?“
„Hör zu, ich weiß nicht genau, wie ich’s dir sagen soll. Ich, ich …“ Lotte überlegte einen Augenblick, bevor sie weitersprach, dann entschied sie sich, direkt mit der Tür ins Haus zu fallen: „Also, ich habe während der Burgführung eine Zeitreise ins Mittelalter gemacht.“ Sie holte tief Luft und sah ihre Freundin erwartungsvoll an.
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