„So ist es!“, bekräftigte Dietlinde.
Lotte starrte die beiden an, sie wünschte sich weg, ganz weit weg. Es schien ihr tausendmal leichter sich in der Schule mit Dr. Teichmann herumzuschlagen oder Verantwortung in der Mannschaft zu übernehmen.
Was die zwei hier von ihr verlangten, war eine Nummer zu groß, nein, zehn Nummern zu groß. Warum hatte sie sich nur auf diese Zeitreise eingelassen? In ihrer Stadt lag der Abfall nicht einfach so auf den Straßen, es gab keinen Krieg und erst recht keine blutrünstigen Heerführer, wenn man mal von Dr. Teichmann absah. Balthasar ahnte, was in Lotte vorging, beruhigend strich er ihr über die Wange.
„Mein liebes Kind, und ich nenne dich jetzt ganz bewusst so, ich weiß, in deiner Zeit leben junge Menschen anders als hier. Du sollst dich heute auch noch nicht entscheiden, das wäre zu viel verlangt. Nur auf eins möchte ich dich aufmerksam machen, du bist unsere einzige Verbindung in die Zukunft.“
Balthasar machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Nun ziehe mit Dietlinde von dannen und denke in Ruhe über alles nach. Ich bitte dich jedoch herzlich, am nächsten Tag wieder in die Katharinenkirche zu kommen, um meiner Schülerin deine Entscheidung mitzuteilen.“
Lotte nickte, die Aussicht, wieder zu Doro und den anderen zurückzukehren, erleichterte sie.
„Vorher solltest du dich aber umkleiden“, grinste Dietlinde, „damit dich auf dem Rückweg zur Burg nicht wieder alle so anglotzen.“
„Ein kluger Vorschlag“, nickte Balthasar, „nur was soll sie tragen?“
Dietlinde ließ den Blick schweifen. „Wie wäre es mit Eurer Schlafdecke, Vater?“
„Oh ja, das geht“, freute sich Balthasar und zog aus dem Bettschrank einen mit Stroh gefüllten Sack. Er schüttelte ihn aus und riss Löcher für Arme und Kopf hinein.
„Arme hoch!“, forderte er Lotte auf und stülpte ihr den Schlafsack über. Die wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, denn das Ding roch und kratzte fürchterlich. Balthasar schien ihn noch nie gewaschen zu haben, aber der Sack verdeckte vollständig ihre Jeans und das Sweatshirt.
„Dann müssen wir noch etwas dein Haupthaar zerwühlen“, lachte Dietlinde und fuhr ihr kräftig durch die Frisur. Balthasar gab ihr noch einen alten Strick, damit sie das neue Gewand für ihre Körpergröße passend gürten konnte.
Dietlinde betrachtete sie prüfend. „Gut so, jetzt fällst du kaum noch auf, nur deine Schuhe musst du ausziehen, Bauernkinder laufen barfuß.“ Das leuchtete Lotte ein und sie versteckte sie unter ihrem weiten, neuen Kleidungsstück.
„Wohlan denn“, meinte Dietlinde fröhlich und wandte sich zur Tür.
Als die beiden Mädchen vor dem Haus standen, fiel ihr Blick auf Lottes strahlend saubere Füße, während ihre eigenen kohlrabenschwarz waren.
„Fällt dir was an mir auf?“, fragte Dietlinde.
„Na klar, du könntest mal wieder deine Füße waschen.“
„Ich hatte eine andere Möglichkeit in Erwägung gezogen“, sagte sie, bückte sich und begann Lottes Füße kräftig mit Sand und Dreck zu scheuern.
„Bist du verrückt? Lass das!“, rief Lotte entsetzt.
„Jetzt halt still!“, schimpfte Dietlinde. „Deine edlen, weißen Treter fallen jedem Bentheimer doch schon von Weitem auf.“
„Na gut, einverstanden, aber lass mich das selbst machen.“
Lotte begann vor dem Haus immer wieder hin und her zu laufen, bis ihre Füße fast genauso aussahen wie Dietlindes. Dann gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Als sie das untere Burgtor wieder erreicht hatten, bemerkte Lotte das Fallgitter, das bei Gefahr heruntergelassen werden konnte.
„So ein Gitter gibt’s in unserer Zeit gar nicht, das mittlere Tor übrigens auch nicht“, stellte Lotte fest.
„Vielleicht geht es bei euch ja friedlicher zu als bei uns“, antwortete Dietlinde.
Vor der Katharinenkirche legte sie Lotte ihre Hand auf die Schulter. „Also, morgen Nachmittag werde ich in der Kanzel wieder auf dich warten, dann musst du mir sagen, wie du dich entschieden hast.“
Lottes Gefühle und Gedanken fuhren Achterbahn. Sollte sie den Bentheimern helfen? Sie würde es gerne, aber sie hatte auch große Angst. Sie war sogar wütend auf Dietlinde, weil die sie erst in die Situation gebracht hatte. Gleichzeitig fand sie dieses Mädchen und ihren Lehrer beeindruckend, solchen Menschen war sie bisher noch nie begegnet. Gedankenverloren sah sie an Dietlinde vorbei.
„Lotte, hörst du mich?“, fragte diese schließlich vorsichtig.
„Ja, klar.“
„Es wird Zeit Balthasars Bettdecke auszuziehen, oder willst du die mitnehmen?“
„Nein, nein“, murmelte Lotte und befreite sich erleichtert von dem übel riechenden Sack. „Aber ich muss mir noch die Füße waschen, sonst wissen die anderen doch sofort Bescheid.“
„Nicht nötig“, antwortete Dietlinde gelassen, „du bedeckst sie ja wieder mit deinen Schuhen und Strümpfen. Nun schließ deine Augen.“
Lottes Anspannung stieg. Würde die Reise zurück in die Zukunft genauso funktionieren wie ins Mittelalter? Was wäre, wenn es schiefginge, und sie für immer hierbleiben müsste?
„Streck deine Hand aus“, kommandierte Dietlinde, „nein, nicht nach unten, wir sind doch gleich groß!“
Wieder spürte sie den kleinen Stich am Finger, und wieder hatte sie das Gefühl, in ihr ziehe sich alles zusammen. Der Schmerz in den Muskeln überraschte sie jetzt zwar nicht mehr, dennoch musste sie die Zähne zusammenbeißen. Als sie die Augen öffnete, war sie überwältigt. Die Blumen und Gräser, die ihr eben noch bis zum Fußknöchel reichten, berührten jetzt fast ihren Hals. Vor ihr standen riesige Füße im Gras, die mussten zu Dietlinde gehören. Tatsächlich, als sie ihren Blick nach oben richtete, sah sie den roten Wuschelkopf mit der Stupsnase.
„Kommst du nicht mit in die Kirche?“
Dietlinde schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht.“ Sie wies auf das Loch in der Mauer.
„Da ist der Eingang, drüben landest du wieder in der Kanzel. Ich hoffe, wir sehen uns dann morgen.“
Lotte nickte, winkte Dietlinde noch einmal zu und stieg über eine kleine Steintreppe zur Maueröffnung hinauf. Sie tastete sich in den dunklen Gang hinein. Nach kurzer Zeit spürte sie, wie ihr Körper erneut durch den starken Strom erfasst und mitgerissen wurde. Wieder rasten Bilder der Burganlage an ihr vorbei, nur wurden jetzt die Gebäude den heutigen immer ähnlicher, auch die Menschen kamen ihr zunehmend vertrauter vor. Schließlich verlor sie das Bewusstsein.
Als Lotte erwachte, fand sie sich im Inneren der Kirche wieder und saß, wie Dietlinde ihr vorausgesagt hatte, auf dem Boden der Kanzel. Einen Augenblick zögerte sie, dann blickte sie prüfend nach oben, streckte ihren linken Arm aus und merkte, dass sie mit der Hand den oberen Rand berühren konnte. Also hatte sie ihre normale Körpergröße schon zurück. „Dann auf zu den anderen“, murmelte sie und rappelte sich hoch. Die Kassiererin im Kassenhäuschen bemerkte Lotte nicht, als sie wieder den Burghof betrat. Während sie auf den Batterieturm zuging, verließen ihre Klasse, Dr. Teichmann und der Führer gerade die Kronenburg, das Hauptgebäude der Burganlage.
Doro und Tom gingen nebeneinander. Lotte traute ihren Augen nicht, die beiden schienen sich bestens zu verstehen, ihre Freundin lächelte sogar, jedenfalls glaubte Lotte ihre Zahnklammer in der Sonne blitzen zu sehen.
Während sie auf die anderen zuging, dachte sie über eine Entschuldigung für ihren Klassenlehrer nach.
„Ich war auf der Toilette.“
Nein, zu blöd.
„Mir war schlecht, ich musste mich ausruhen.“
Schon besser, aber auch nicht überzeugend.
„Kleiner Doktor, Sie gehen mir so auf den Geist, ich war mal eben im Mittelalter.“
Das würde wieder Stress mit Teichmann bedeuten. Also entschied sie sich für Möglichkeit zwei. Lotte rechnete damit, streng zur Rede gestellt zu werden. Ihr Herz klopfte wie heute Morgen, als sie vor der Klassentür stand.
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