„Was ...“, murmelte sie noch, als das Tier auch schon einige Meter von ihnen entfernt landete. Völlig geräuschlos legte es seine riesigen Schwingen an und betrachtete Felicitas und Enapay dann erwartungsvoll. Felicitas starrte das Wesen mit offenem Mund an und wich mehrere Schritte zurück. Vor ihr stand ein großer Wolf. Ein Wolf mit Adlerschwingen.
„Ihr habt mich gerufen, Meister.“ Die hohe, weibliche Stimme hallte in Felicitas' Kopf wider.
„Ja, Misae. Danke, dass du so schnell gekommen bist. Wir würden gerne zur Schule zurückfliegen“, erklärte Enapay. Der Wolf neigte den Kopf. Es sah beinahe so aus, als ob er sich verneigte.
„Komm.“ Enapay schritt auf das Wesen zu.
„Aber ...“, protestierte Felicitas. „Das ist doch unmöglich!“, hatte sie sagen wollen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Wie konnte sie nach den letzten vierundzwanzig Stunden noch glauben, dass irgendetwas unmöglich war?
„Du musst keine Angst vor mir haben, Felicitas.“ Wieder hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. „Mein Name ist Misae und ich bin ein Nanook Dyami, ein Wolf mit Adlerschwingen. Ich werde euch sicher zur Schule bringen, denn ich stehe in Enapays Diensten.“
„Ach so ... na dann ist ja alles klar.“ Als sie langsam näher an Misae herantrat, lachte Felicitas. Es hörte sich ein bisschen hysterisch an.
Der Nanook Dyami legte sich auf den Boden und wartete, bis Enapay und Felicitas auf seinen Rücken gestiegen waren.
Noch einmal sah Felicitas zurück auf das kleine, weiße Haus, in dem sie so lange gelebt hatte. Hinter einem Busch sah sie unheimliche, grüne Augen aufleuchten. „Dann bist du also der Einzige, der weiß, was wirklich passiert ist“, raunte sie Shadow zu.
Plötzlich setzte Misae sich in Bewegung. Ohne zu überlegen, klammerte Felicitas sich an Enapay, als der Nanook Dyami die Flügel ausbreitete und in den dunklen, nächtlichen Himmel emporschoss. Erst jetzt fiel Felicitas auf, dass etwas nicht stimmte: Obwohl sie Enapay berührt hatte, blieb die Welle von Gefühlen aus. Ja, sie spürte nichts, nur das Kribbeln in ihrem Bauch und die Euphorie, die sich langsam in ihr ausbreitete, als sie die Stadt mit ihren Lichtern immer weiter unter sich zurückließen.
Das war Magie. Sie wusste es.
Ihre langen Haare wehten im lauen Wind und die Sterne schienen auf einmal zum Greifen nah zu sein. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen arbeitete Misae sich in die Höhe.
Bald schon ließen sie die Stadt hinter sich zurück und glitten über den nahe gelegenen Wald. Das silbrige Licht des Mondes ließ die Bäume wie ein Meer aus Schatten wirken, das sich gleichmäßig im Wind wiegte.
„Willkommen in meiner Welt.“ Misaes Stimme klang in ihrem Kopf.
Felicitas lachte. Auf einmal fühlte sie sich so leicht und befreit. Am liebsten wäre sie ihr ganzes Leben lang nur geflogen, würde nicht an gestern denken und nicht an morgen.
Völlig lautlos glitt Misae durch die Nacht. Staunend betrachtete Felicitas die Landschaft, die unter ihnen vorüberzog: erst der Wald, dann die Hügel. Und vor ihnen bemerkte sie die dunklen Silhouetten der Berge, die sich gegen den inzwischen heller gewordenen Himmel abzeichneten. Vorsichtig ließ Felicitas Enapay los und streckte die Arme aus. Der Wind fuhr ihr durchs Gesicht und sie schloss die Augen.
Magie. Freiheit.
Das waren die beiden einzigen Worte, die dieses Gefühl beschreiben konnten, das sich auf einmal in ihr breitmachte. Ja, sie war frei. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Keine Eltern, die ihr sagten, was sie zu tun und zu lassen hatte. Keine Verpflichtungen. Keine Langeweile. Von jetzt an würde sich ihr Leben grundlegend ändern. Und in diesem Moment freute sie sich zum ersten Mal wirklich darauf.
„Schau dir den Sonnenaufgang an, Felicitas“, riet Misae auf einmal. Als Felicitas die Augen wieder öffnete, wurden die Berge von einem goldenen Licht angestrahlt und warfen lange Schatten über die Landschaft. Der Schnee auf den Gipfeln glitzerte.
„Es ist wunderschön“, murmelte Felicitas leise.
„Das ist der Zauber der Natur“, meinte Enapay.
Die Berge zogen unter ihnen vorüber, während die Sterne zusehends verblassten.
„Halt dich fest.“ Wieder hallte Misaes Stimme durch ihren Kopf.
Felicitas klammerte sich an das weiche Fell des Nanook Dyami, als dieser auch schon zum Landeanflug ansetzte. Überrascht schrie Felicitas auf, als Misae sich auf einmal wie ein Stein in die Tiefe fallen ließ. Doch bevor sie wirklich wusste, wie ihr geschah, breitete Misae auch schon wieder die Flügel aus und fing den Sturz geübt ab. Nur wenige Meter unter ihnen erstreckte sich ein Wald, der von der Sonne in gleißendes Licht getaucht wurde. Felicitas musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden.
Sie spürte, wie Misae eine enge Kurve beschrieb und dann noch tiefer glitt. Als sie neugierig blinzelte, sah sie vor ihnen zwischen den Bäumen die Türme eines kleinen Schlosses emporragen. Die Wände waren braun und rissig, es schien, als sei es seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Und trotzdem war es von einer merkwürdigen Aura umgeben, die Felicitas sofort in ihren Bann zog. Sie spürte, dass irgendetwas mit dem alten Gemäuer nicht stimmte, dass es irgendein Geheimnis barg.
„Es ist die Schule“, murmelte sie leise zu sich selbst.
„Ja.“ Sie hörte, dass Enapay lächelte.
Immer weiter flog Misae auf das Schloss zu, bis sie schließlich direkt darüber schwebten. Jetzt bemerkte Felicitas auch, dass es auf einer großen Lichtung erbaut worden war, am Ufer eines kleinen Sees. Unwillkürlich dachte sie an Etu und an den spiegelglatten See, den sie in ihrem Traum besucht hatte. Hatte diese Schule etwas mit dem Ort in ihrem Traum zu tun?
Sie wollte Enapay gerade fragen, als Misae lautlos landete.
Enapay glitt von ihrem Rücken.
„Das wird für die nächste Zeit dein Zuhause sein.“ Er deutete auf das Schloss.
„Mein Zuhause“, dachte Felicitas und eine tiefe Traurigkeit überkam sie, „mein neues Zuhause.“
Schweigend folgte sie Enapay und Misae über die taufeuchte Wiese hinunter zum See. Das Licht der Sonne ließ die kleinen Wellen glitzern und färbte die Wolken am Himmel rosa. Eigentlich war es ganz schön hier. Neugierig betrachtete Felicitas das Schloss. Von hier aus sah es viel größer aus als aus der Luft. Vier kleine, verzierte Türmchen reckten sich zu jeder Seite des Schlosses in die Höhe und die großen Fensterscheiben waren aus buntem Glas. Es hätte edel wirken können, würden an den Wänden nicht schon der Putz und die Farbe abbröckeln. Ohne zu zögern, schritt Enapay auf das große Eingangstor zu. Er murmelte etwas Unverständliches, woraufhin es lautlos aufschwang. Staunend betrat Felicitas hinter ihm den geräumigen Innenhof.
Eine große Rasenfläche breitete sich vor ihnen aus. Um sie herum erhoben sich die Mauern des Schlosses und nur hinter vereinzelten Fenstern brannte schon Licht.
„Danke für deine Hilfe.“ Enapay verneigte sich förmlich vor Misae.
„Es war mir eine Ehre“, antwortete der Nanook Dyami.
„Komm mit, ich werde dich gleich auf dein Zimmer bringen.“ Enapay drehte sich um und steuerte über die Wiese hinweg auf eine kleine, unscheinbare Tür zu.
Als Felicitas zögerte, stupste Misae sie sanft mit der Schnauze an. „Hab keine Angst, Felicitas.“
„Ich habe keine Angst“, murmelte sie und beeilte sich, Enapay zu folgen.
„Ich habe schon viele Wandler gesehen, Felicitas Wilara, aber darunter keinen einzigen mit solchen Fähigkeiten wie den deinen. Pass auf, dass du nicht vom Weg abkommst, denn du wirst unser aller Schicksal bestimmen!“
Misaes Stimme klang noch einmal in ihrem Kopf, laut und deutlich. Doch als sie sich zu ihr umdrehte, war sie verschwunden.
„Felicitas!“, rief Enapay und sie schloss eilig zu ihm auf.
Читать дальше