Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich eine vollkommen andere Welt. Staunend betrachtete Felicitas den mit Teppichen ausgelegten Fußboden und die hölzerne Treppe, die nach oben führte. Fackeln hingen an den Wänden und an der gegenüberliegenden Seite prasselte ein Kaminfeuer.
Ein leises Lächeln huschte über Felicitas' Gesicht. Sie hatte das Gefühl, um Jahre zurückversetzt zu sein. Das hier glich eher einer alten Burg im Mittelalter als einem halb verfallenen Schloss in einer Welt voller Technik und Industrie.
„Gefällt es dir?“, fragte Enapay.
Überrascht fuhr Felicitas herum. Für einen kurzen Augenblick hatte sie Enapay ganz vergessen.
„Äh ... ja“, stammelte sie und starrte den Mann an, der auf einmal vor ihr stand. Enapay hatte die Kapuze zurückgeschoben und erst jetzt konnte Felicitas erkennen, wie alt er eigentlich war. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und sein Haar schlohweiß. Doch seine hellen, blauen Augen leuchteten noch immer wie die eines Kindes: voller Kraft und Tatendrang.
„Du wirst dir ein Zimmer mit Ailina teilen“, erklärte Enapay und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Zielsicher führte er Felicitas durch die verlassenen Korridore des Schlosses.
„Das hier sind die Unterrichtsräume“, verkündete er und deutete den Gang entlang, „und dort hinten geht es zu den Schlafräumen. Du darfst dich frei im Schloss bewegen, doch die Kellergewölbe sind für dich, genau wie für alle anderen Schüler, tabu. Erst mit deiner Namenszeremonie und somit der Erhebung in den Lehrer- beziehungsweise Kriegerstatus bist du ein voll ausgebildeter Wandler und darfst den geheimen Ritualen beiwohnen.“
„Aha“, machte Felicitas, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Namenszeremonien, geheime Rituale, verbotene Kellergewölbe ... wo war sie hier nur hineingeraten?
„So, da wären wir.“ Enapay blieb vor einer dunklen, hölzernen Tür stehen, die genauso aussah wie jede andere dunkle, hölzerne Tür in diesem Gang. „Ich wünsche einen angenehmen Schlaf.“ Mit einem freundlichen Nicken ließ er sie zurück. Felicitas beobachtete noch, wie er würdevoll den Gang entlangschritt, bis er hinter einer Biegung verschwand. Auf einmal war sie wirklich allein. Sie spielte mit dem Gedanken, Enapay hinterherzurufen, er solle zurückkommen, ließ es dann aber bleiben.
Das Sonnenlicht, das durch die bunten Glasscheiben schien, ließ farbenfrohe Lichtflecke auf dem Boden tanzen, doch Felicitas starrte sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Um sie herum war es vollkommen still. Auf einmal begann sie, unkontrolliert zu zittern. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, als sie Enapay einfach gefolgt war? Sie wusste doch gar nicht, was sie hier erwartete!
Zögernd streckte sie die Hand aus und klopfte. Wenn sie hier stehen blieb, würde sie es nie erfahren. Dann wartete sie. Als sich im Zimmer nichts rührte, umfasste sie die Türklinke.
Die Tür quietschte leise, als Felicitas sie aufdrückte und in das Zimmer dahinter spähte. Es war klein, mit nur einem einzigen Fenster und zwei Betten an der hinteren Wand. Auf einem davon lag ein Mädchen. Es war hübsch, hatte langes, blondes, fast weißes Haar und ein Lächeln zierte sein Gesicht. Es sah glücklich aus. Zumindest, wenn es schlief.
Leise schlich Felicitas sich in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Erst jetzt fielen ihr die beiden hohen Schränke an den Seiten und der kleine Schreibtisch, der direkt links neben der Tür stand, auf. Leise stellte sie ihre Tasche neben dem Kopfende des noch freien Bettes ab. Obwohl sie sich gerne hingelegt hätte, zögerte sie. Das Bettzeug war ganz weiß und sowohl die Decke als auch das Kopfkissen waren faltenlos.
„Fast wie in einem Krankenhaus“, dachte Felicitas auf einmal, „in das die kranken Kinder eingeliefert werden, die fremde Gefühle spüren können und vermutlich bald verrückt werden.“
Sie nahm den Raum noch einmal genauer in Augenschein. Sie musste sich eingestehen, dass er sonst relativ wenig mit einem sauberen und nach Desinfektionsmitteln riechenden Krankenzimmer gemeinsam hatte. Der Boden war mit einem hellen, orangefarbenen Teppich ausgelegt und auf dem kleinen Schreibtisch lagen unordentlich mehrere Blätter Papier verteilt. Sogar in die dunklen Schränke waren feine Muster eingearbeitet, die Felicitas auf Anhieb gar nicht aufgefallen waren. Nur die Wände wirkten genauso traurig und farblos wie das Bettzeug. Und die kahle Glühbirne, die von der Decke baumelte.
Felicitas seufzte leise und legte sich schließlich doch hin. Fast sofort fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Am liebsten würde ich weglaufen, und oft frage ich mich, warum ich das nicht längst getan habe. Was hält mich noch hier? Der Glaube, dass ich noch etwas bewirken kann? Der Glaube an die Sonne, die jeden Morgen aufgehen soll, es aber nicht mehr schafft, die ewige Dunkelheit zu vertreiben?
Als Felicitas blinzelte, war das gesamte Zimmer in ein grelles, orangefarbenes Licht getaucht. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, dass sie noch träumte. „Hast du gut geschlafen?“, fragte eine sanfte Stimme vom anderen Ende des Zimmers.
„Sandra? Wie spät ist es?“, murmelte Felicitas verschlafen.
„Zehn vor neun.“
„Ach so.“ Felicitas schloss die Augen wieder. Es waren Ferien, da konnte sie ruhig noch ein wenig länger schlafen.
„Zehn vor neun abends.“
Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Stimme gar nicht zu Sandra gehörte. Mit einem Ruck fuhr sie hoch und blickte geradewegs in die blauen Augen eines blonden Mädchens.
„Wer ...“, setzte sie an, als ihr schlagartig alles wieder einfiel. Der Traum. Ihre Fähigkeiten. Misae. Enapay.
„Ailina“, beantwortete das Mädchen ihre unausgesprochene Frage. „Und du musst Felicitas sein.“
„Ja. Felicitas. Ja“, murmelte Felicitas ein wenig verwirrt. „Hallo Ailina.“
Ailina lächelte. Es wirkte glücklich und traurig zugleich.
Irgendetwas an Ailina war anders als an anderen Menschen, das spürte Felicitas auf einmal. Aber was? Sie musterte ihre neue Zimmergenossin aufmerksam, konnte jedoch nichts entdecken, was sie irgendwie von anderen Mädchen in ihrem Alter unterschied.
„Wann hat er dich geholt?“, fragte Ailina auf einmal mit ihrer sanften Stimme. „Zu mir kam er mitten in der Nacht, als alle schliefen. Er hat gesagt, wir würden mit dem Unterricht beginnen, sobald alle da wären. Du warst die Letzte.“
Felicitas hatte Schwierigkeiten, Ailina zu folgen. „Äh ... die Letzte wovon?“
„Die Letzte, die er geholt hat.“
„Aha.“
„Also haben wir heute Nacht unsere ersten Unterrichtsstunden.“
„Heute Nacht?“
„Wandler sind nachtaktiv. Jessy hat es mir erzählt.“
Felicitas wollte gerade nachfragen, wer Jessy war, als Ailina aufstand.
„Du solltest dich umziehen. Es gibt bald Frühstück.“
Frühstück? Felicitas stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in flammendes Orange und ließ die Wolken hell erstrahlen. Nach Frühstück sah das Ganze nicht aus. Eher nach Abendessen.
Felicitas seufzte und durchwühlte ihre Sporttasche nach Kleidungsstücken.
„Ist das Sandra?“ Plötzlich stand Ailina neben ihr und sah auf das Foto, das Felicitas auf ihr Bett gelegt hatte.
Felicitas hielt inne und starrte das Foto einige Sekunden lang an. „Ja“, sagte sie schließlich.
„Sie ist deine Schwester, nicht wahr? Ihr seht euch sehr ähnlich.“
„Nein“, flüsterte Felicitas, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden. „Sandra hat braunes Haar, ich habe schwarzes. Sie hat Sommersprossen und einen viel schmaleren Mund.“
„Aber ihr habt die gleichen Augen“, bemerkte Ailina.
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