1 ...6 7 8 10 11 12 ...45 Felicitas nickte langsam. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sandra. Ihre Schwester würde sie am meisten vermissen. Sandra, die spontane, ungeschickte, tollpatschige Sandra, die das Leben auf ihre ganz eigene Art sah.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht, sie alleine zurückzulassen?“, fragte Felicitas leise.
Ailina antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Also gab Felicitas sich einen Ruck, angelte ein paar Klamotten aus der Tasche und zog sich um.
Als Felicitas Ailina durch die Gänge des Schlosses folgte, fiel ihr auf, wie anders hier alles bei Nacht wirkte. Die Sonne war bereits untergegangen und nur die Fackeln warfen noch ihre flackernden, tanzenden Lichter an die Wände. Jetzt konnte sie auch die Zeichnungen sehen. Dünne, schimmernde Linien wanden sich an den grauen Steinen entlang bis hoch an die Decke und vereinigten sich zu einem geheimnisvollen, magischen Muster.
Sie liefen durch die leeren Korridore des Schlosses, eine Treppe hinunter, eine andere wieder hinauf und dann wieder durch etliche Gänge.
„Jetzt ist es nicht mehr weit“, meinte Ailina auf einmal.
„Ein Glück.“ Felicitas glaubte nicht, dass sie sich in diesem Schloss jemals alleine zurechtfinden würde.
Schon von Weitem konnte sie das Stimmengewirr und Gelächter hören, das in den leeren Korridoren seltsam verzerrt widerhallte.
Schließlich standen sie vor einer weit geöffneten hölzernen Flügeltür, in die verschiedene feine Muster eingearbeitet waren. Dahinter erstreckte sich ein großer Saal, in dem drei lange Tische standen. Jeder Einzelne von ihnen war voll besetzt.
„So viele Schüler gibt es hier?“, fragte Felicitas erstaunt.
„Ja. Ungefähr sechzig“, erklärte Ailina. Dann deutete sie unauffällig zu einem weiteren Tisch, der ein wenig höher als die übrigen an der Stirnseite der Halle stand. „Dort sitzen die Lehrer.“
Felicitas entdeckte Enapay an dem Tisch. Er unterhielt sich mit einem mindestens ebenso alten Mann neben ihm, doch plötzlich hob er den Kopf und sah sie direkt an. Er runzelte die Stirn, als würde ihn etwas wundern, doch dann lächelte er. „Komm.“ Ailina ging voraus durch die Halle und steuerte auf den hintersten Tisch zu.
„Hi Ailina!“, rief ein rothaariges Mädchen plötzlich.
„Hallo Jessy.“ Jessy rutschte ein wenig zur Seite, sodass neben ihr genug Platz für Ailina frei wurde.
„Äh ...“, setzte Felicitas an, um die Freundinnen auf sich aufmerksam zu machen, doch Ailina hatte sie nicht vergessen.
„Das ist Felicitas“, erklärte sie.
„Hallo Felicitas!“ Zu Felicitas Überraschung stand Jessy auf und kam auf sie zu. Anscheinend wollte das Mädchen sie umarmen. Felicitas zuckte zurück. Sie hatte zu viel Angst vor dem Körperkontakt zu einem anderen Menschen.
„Oh, natürlich. Diese blöde Gabe. Die vergesse ich aber auch immer wieder.“ Jessy lächelte entschuldigend und Felicitas kam nicht darum herum, sie zu mögen. Für ihre spontane Art und ihre Freundlichkeit. Und vielleicht auch, weil Jessy sie ein wenig an Sandra erinnerte.
„Macht euch nicht so breit!“, rief Jessy. Nachdem auf der Bank ein wenig gerutscht worden war, passte Felicitas noch zwischen Ailina und Jessy. „Bist du auch auf Misae geflogen?“, fragte Jessy, sobald Felicitas sich gesetzt hatte. „Es ist toll, nicht wahr? Dieses Gefühl, wenn man in den Himmel hinaufschießt ...“
Plötzlich wurde es still im Saal und Jessy verstummte. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Enapay, der sich erhoben hatte.
„Guten Abend alle zusammen“, sagte er höflich. „Ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass unsere Schule wieder Zuwachs bekommen hat. Insgesamt acht neue Schülerinnen und Schüler.“
Enapays Blick schweifte durch den Saal. „Sie werden heute Nacht mit dem Unterricht beginnen.“
Auf einmal füllte aufgeregtes Stimmengewirr die Halle.
„Das wurde aber auch Zeit!“, rief Jessy und ihre Augen leuchteten, als sie sich an Felicitas und Ailina wandte. „Stellt euch mal vor, wir werden zu Wandlern ausgebildet! Wir lernen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen! Und Gefühle von anderen Menschen wahrzunehmen und ...“
„Ruhe!“ Enapays Stimme erfüllte die Halle. „Ich bitte die Neuen, nach dem Essen mit Ituma“, er deutete auf die dunkelhaarige Frau neben sich, „mitzugehen. Sie wird euch in die Geheimnisse der Wandler einweisen und euch helfen, eure neue Rolle besser zu verstehen.“ Plötzlich heftete sich sein Blick auf Felicitas. „Ich wünsche euch viel Erfolg“, fügte er hinzu, dann setzte er sich wieder.
Augenblicklich schwoll der Lärmpegel wieder an.
„Ich freu mich so! Das wird so cool!“, rief Jessy und klatschte aufgeregt in die Hände. Felicitas musste lächeln. Jessy wirkte wie ein kleines Kind an Weihnachten, das sich darauf freute, endlich die Geschenke zu öffnen.
„Wie, meinst du, wird hier der Unterricht sein?“, wandte Felicitas sich an Ailina. Mit Jessy konnte man momentan keine vernünftige Unterhaltung führen.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Ailina ruhig und nahm sich ein Brötchen.
„Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken?“, rief Jessy etwas zu laut.
Ailina zuckte mit den Schultern. „Wenn ich nicht esse, habe ich Hunger. Und wenn ich Hunger habe, kann ich mich nicht so gut konzentrieren“, erklärte sie gelassen. Für einen kurzen Augenblick sah Jessy sie perplex an, dann nahm sie sich auch ein Brötchen.
Gegen ihren Willen musste Felicitas lächeln. „Sandra“, murmelte sie leise.
Nach dem Essen verließen die älteren Schüler die Halle. Langsam wurde Felicitas nervös, während sie immer wieder zu dem Tisch der Lehrer hinaufschielte. Ituma sprach noch immer mit Enapay. Worüber die beiden wohl redeten?
Felicitas hing ihren Gedanken nach, während Jessy neben ihr ununterbrochen plapperte und Ailina gedankenverloren Muster in einen Klecks Marmelade zeichnete.
„Hallo und herzlich willkommen an unserer Schule!“ Itumas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Lehrerin hinter sie getreten war. „Darf ich euch bitten, mir zu folgen?“ Felicitas glaubte, einen leichten französischen Akzent in ihrer Stimme wahrzunehmen. Gemeinsam mit den fünf anderen folgten Ailina, Jessy und Felicitas Ituma aus dem Saal hinaus und dann wieder durch die Gänge des Schlosses. Die fremdartigen Muster leuchteten jetzt noch viel stärker als vorher und ließen Felicitas erschaudern. Was sie wohl bedeuteten?
„Es sind Schriftzeichen“, sagte Ailina plötzlich leise.
„Was?“
„Die Linien.“ Die Fingerspitzen des blonden Mädchens fuhren an der Wand entlang. „Sie gehören zu einer alten Sprache. Ich kann sie nicht entziffern.“
„Wieso hat man sie an die Wände und an die Decken gemalt?“, fragte Felicitas Ailina.
Doch es war Ituma, die ihr antwortete. „Damit wir nicht vergessen, wofür wir kämpfen“, sagte sie knapp.
Nun streckte auch Felicitas zögernd die Hand aus und fuhr die geheimnisvollen Linien mit dem Finger nach. Die Steine fühlten sich rau an und kalt.
Erst jetzt fiel Felicitas auf, wie ruhig es um sie herum war. Keiner der anderen Jugendlichen sagte ein Wort, sogar Jessy war still. Nur ihre Schritte hallten unheimlich laut in dem mit Fackeln beleuchteten Gang wider.
Verstohlen musterte Felicitas ihre neuen Klassenkameraden. Neben Jessy und Ailina befanden sich noch zwei Mädchen in der kleinen Gruppe und drei Jungen. Einer von ihnen hatte einen schwarzen Wuschelkopf und blaue Augen. Seine Hände hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben, während sein Blick an den Wänden entlangwanderte. Die anderen beiden hatten braune Haare, in die sich einer eine grüne Strähne hatte färben lassen. Als hätte er Felicitas' Blick bemerkt, drehte er sich auf einmal um und lächelte. Ein zitterndes, gezwungenes Lächeln.
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