„Ganz sicher. Mach dir um mich keine Sorgen.“
Sandra sah ihre große Schwester lange an. Felicitas war noch nie gut im Lügen gewesen. Aber wenn sie nicht darüber reden wollte, hatte es keinen Sinn, weiter nachzufragen. Also schloss Sandra leise die Tür.
***
Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr. War sie etwa schon wieder eingeschlafen?
„Felicitas.“
Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.
„Enapay“, sagte sie dann leise.
Seltsamerweise war sie nicht überrascht. Nein, vielmehr schien es, als hätte sie ihn schon erwartet. Als hätte sie schon seit Langem gewusst, dass er kommen würde.
*
Ich sehe mich um, immer wieder. Erwarte, dass in den Schatten jemand steht, jemand auf mich lauert. Unendlich viele Augenpaare beobachten mich, verfolgen jeden meiner Schritte. Warten auf den richtigen Augenblick, um aus der Dunkelheit hervorzuspringen, um mich zu packen. Niemand würde mein Schreien hören. Niemand würde mir helfen. Denn ich bin alleine.
„Komm mit mir.“ Genau wie bei ihrer letzten Begegnung war Enapay in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt und eine Kapuze verdeckte sein Gesicht. Nur seine hellen, blauen Augen leuchteten aus dem Schatten hervor.
„Ich kann nicht.“ Felicitas' Stimme zitterte. „Mein Platz ist hier, bei meiner Familie.“
„Nicht, wenn du sie durch deine Gaben in Gefahr bringst“, flüsterte Enapay leise und eindringlich. „Du weißt, dass du es warst, die Sandra diese Schmerzen zugefügt hat, nicht wahr? Du wolltest es nicht, du hast es noch nicht einmal bemerkt. Und das macht dich so gefährlich: Du hast deine Fähigkeiten noch nicht unter Kontrolle!“
„Ich will diese Fähigkeiten nicht! Niemand hat mich gefragt!“
„Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.“
Felicitas lachte düster auf. „Sie verlangen also von mir, meine Familie und meine Freunde, mein ganzes Leben hinter mir zu lassen und mit Ihnen zu irgendeiner Schule zu gehen, von der ich noch nicht einmal sicher weiß, ob sie existiert, um dort irgendwelche Fähigkeiten auszubilden, mit denen ich andere Menschen töten könnte?“
Enapay nickte. „Du hast keine Wahl.“
„Natürlich habe ich eine Wahl!“, zischte sie.
„Wenn du nicht mit mir kommen willst, wieso hast du mich dann heute Nachmittag gerufen?“, wollte Enapay wissen.
Felicitas zuckte zusammen. Woher wusste er das? „Ich verlange Antworten“, erklärte sie schließlich kühl.
„Dann stell deine Fragen.“ Enapay sah sie abwartend an.
„Wieso kann ich Sandra verletzen, ohne es zu wollen?“, wollte sie wissen.
„Das hängt mit deiner Gabe zusammen, die Zweite Ebene zu beherrschen. Du spürst die Gefühle anderer Menschen. Indem du gegen Sandras Gefühle gekämpft hast, hast du ihr Schmerzen zugefügt. Würde ich dir jetzt jede Einzelheit erklären, würde das zu lange dauern. In der Schule wird man dir beibringen, mit dieser Gabe umzugehen.“
Felicitas ging nicht darauf ein.
„Kann ich diese Fähigkeiten unterdrücken?“
„Wenn du sie besser beherrschst, ja. Aber du kannst sie nie ganz ausschalten. Sie sind ein Teil von dir.“
„Wieso bin ich immer so müde, nachdem ich meine Fähigkeiten eingesetzt habe?“
„Um Materie zu bündeln oder die Gefühle anderer Menschen zu spüren, benötigst du Energie. In der Schule könntest du lernen, deinen Körper an den Energieverbrauch zu gewöhnen.“
„Aha“, meinte Felicitas tonlos.
Enapay sah sie lange an, aus seinen hellen, blauen Augen.
„Pack deine Sachen zusammen, Felicitas.“ Auf einmal klang er müde. „Wir müssen die Stadt verlassen haben, bevor die Dämmerung anbricht.“
„Eine Frage habe ich noch.“ Sie musterte Enapay, versuchte unter der Kapuze die Konturen seines Gesichts zu erahnen. „Wieso ich?“, fragte sie dann leise.
Enapay schwieg lange. „Ich weiß es nicht“, bekannte er schließlich.
Felicitas nickte langsam.
Sie wollte nicht weg von hier. Wollte nicht auf diese Schule, von der Enapay die ganze Zeit sprach, wollte Sandra, Martina und ihre Eltern nicht zurücklassen, ohne ihnen wenigstens eine Erklärung liefern zu können. Andererseits hatte Enapay recht.
Sie war gefährlich. Und sie war anders. Sie konnte ihr Leben nicht in ihrem Zimmer verbringen, ständig in der Angst, jemanden zu berühren und mit dessen Gefühlen konfrontiert zu werden. Ständig in der Angst, jemanden, den sie liebte, zu verletzen. So wie Sandra. „Pack deine Sachen zusammen“, bat Enapay noch einmal.
Schweigend stand Felicitas auf und warf einige Kleidungsstücke in ihre Sporttasche. Enapay sah stumm zu, während sie noch das Foto, ihren MP3-Player und ihr Tagebuch dazu warf.
„Kannst du mich bitte allein lassen?“, fragte Felicitas auf einmal.
Enapay sah Tränen in ihren Augen glitzern und spürte ihre Traurigkeit und ihre Unentschlossenheit. „Ich warte draußen auf dich.“ Er wandte sich um und war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ich kann dich zu nichts zwingen“, erklärte er plötzlich. „Ob du mit mir kommst oder hierbleibst, ist deine eigene Entscheidung.“
Felicitas nickte.
Enapay wusste, was sie gerade durchmachte. Oft hatte er dieses Prozedere miterlebt. Jugendliche, hin- und hergerissen zwischen ihrem Leben und ihrer Bestimmung. Aber er wusste auch, wie Felicitas sich entscheiden würde. Er spürte ihre Neugier, die sie unter der Trauer vergraben hatte, als ob sie sich dafür schämte. Spürte ihr Verlangen danach, aus dem normalen, aus dem alltäglichen Leben auszubrechen und sich ihrem Schicksal zu stellen. Und er spürte ihre Angst vor ihrer Gabe. Und vor sich selbst.
Als Felicitas die Haustür leise hinter sich schloss, ergriff ein seltsames Gefühl von ihr Besitz. Von jetzt an war sie eine Wandlerin und sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Sie blieb noch einen Moment vor der Haustür stehen und sah hinunter auf den vertrauten Vorgarten und die Straße. Das alles würde sie jetzt hinter sich lassen. Für wie lange?
Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit, als sie daran dachte, wie ihre Eltern und vor allem Sandra reagieren würden, wenn sie am nächsten Morgen ein leeres Bett vorfinden würden.
Obwohl Felicitas ihnen eine Nachricht hinterlassen hatte, dass sie gegangen sei, um anderswo ihr Glück zu finden, und dass diese Entscheidung nichts mit ihnen zu tun hätte, wusste sie doch, dass ihre Eltern sich furchtbare Sorgen um sie machen würden. „Irgendwann werde ich zurückkommen“, versprach sie sich selbst, „dann werde ich ihnen alles erklären und mich entschuldigen.“
Sie atmete ein paarmal tief durch, hängte sich ihre Tasche um und folgte dann dem schmalen, mit Kieselsteinen ausgelegten Weg zur Straße.
Enapay wartete bereits. Reglos wie eine Statue stand er mit geschlossenen Augen im Schatten der Häuser.
„Toll. Und was jetzt?“ Felicitas setzte ihre schwere Tasche ab und sah Enapay erwartungsvoll an. Als er nicht sofort antwortete, redete sie weiter, um die unheimliche Stille, die sie umgab, zu verdrängen. Eigentlich mochte sie die Nacht mit ihren Schatten und Geheimnissen. Doch auf einmal war ihr mulmig zumute. „Also, natürlich können wir auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass uns ein Taxi abholt. Oder machen Wandler das irgendwie anders?“
„Still!“, fuhr Enapay sie an. Er hielt die Augen geschlossen, versuchte sich zu konzentrieren. Doch Felicitas' Trauer, ihre Angst und ihre Aufregung waren so stark, dass es ihm schwerfiel, mit Misae Kontakt aufzunehmen.
Plötzlich hörte Felicitas ein Flügelrauschen. Als sie nach oben blickte, entdeckte sie einen kleinen, dunklen Schatten vor dem Mond, der schnell größer wurde.
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