Jetzt, im Tageslicht, war ihre Straße kaum wiederzuerkennen: Vögel zwitscherten, die Sonne schien und die Schatten waren verschwunden. Ein einzelner Jogger lief an ihrem Haus vorüber und grinste sie an, woraufhin sie sich schnell vom Fenster zurückzog.
Weil sie noch keine Lust hatte, sich fertig zu machen und zu frühstücken, legte sie sich noch ins Bett, um zu lesen. Auch wenn sie es am Anfang der Ferien nie geglaubt hätte, freute sie sich jetzt doch wieder auf die Schule. Die Tage zogen sich in die Länge, während Martina, ihre beste Freundin, in Italien am Strand lag. Aber Felicitas' Familie konnte sich keinen Urlaub leisten. Also saß sie hier fest.
„Felicitas!“ Die Tür wurde aufgerissen und Sandra, ihre kleine Schwester, stürmte herein.
„Was ist denn los?“, murmelte Felicitas und richtete sich mühsam auf.
„Jetzt sag nicht, du hast noch geschlafen!“, schrie Sandra.
„Ganz ruhig!“ Felicitas hob beschwichtigend die Hände. „Was ist denn los?“
„Ich habe um zehn Uhr ein Date mit Tom und du hast versprochen, mir eine hübsche Frisur zu machen!“
„Oh ja, natürlich!“ Felicitas schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sandras Date mit Tom! Wie hatte sie das nur vergessen können? Dabei redete ihre Schwester doch seit Tagen von nichts anderem mehr.
„Wie sehe ich aus?“ Sandra drehte sich ein paarmal im Kreis und setzte dabei ein übertriebenes Lächeln auf.
„Soll ich ehrlich sein?“, fragte Felicitas vorsichtig.
„Ja.“
„Du siehst aus, als hättest du heute Morgen zum ersten Mal in deinem Leben einen Kajal benutzt.“
„Aber Felicitas, ich habe heute Morgen zum ersten Mal in meinem Leben einen Kajal benutzt!“
Felicitas seufzte. „Los, hol die Abschminktücher. Ich mach das.“
Sandra wirbelte aus dem Zimmer, streckte jedoch nur Sekunden später wieder ihren Kopf durch die Tür. „Ääh ... wo sind denn die Abschminktücher?“
„Im Schrank unter dem Waschbecken.“
Und weg war sie.
Felicitas seufzte. Auch wenn sie es nicht gerne zugab, beneidete sie ihre kleine Schwester ein wenig. Seit ihrem letzten Date waren zwei Jahre vergangen. Obwohl ... eigentlich war es nie zu einem richtigen Date gekommen, schließlich hatte Stefan sie sitzen lassen.
„Ich bin wieder da-ha!“ Sandra kam ins Zimmer gerannt und krachte gegen das Bett, als der Teppich unter ihr wegrutschte.
„Oh Gott! Alles in Ordnung?“ Felicitas half ihrer kleinen Schwester auf.
Sandra stöhnte. „Habe ich irgendwo hässliche blaue Flecken?“
Felicitas lachte, froh darüber, dass das Sandras einziges Problem zu sein schien. „Nein. So, und jetzt setz dich hin und halt still.“
Während sie mit einem Abschminktuch vorsichtig den viel zu dick aufgetragenen Puder und den verschmierten Kajal abwischte, redete Sandra wie ein Wasserfall. Obwohl Felicitas sich bemühte, ihr zu folgen, musste sie sich doch viel zu sehr auf das Schminken konzentrieren, und so verschmolzen die Worte ihrer kleinen Schwester immer mehr zu einem gleichmäßigen, nervenden Summen.
Felicitas fluchte leise, als sie mit dem Lippenstift daneben malte, weil Sandra noch nicht einmal für ein paar Sekunden den Mund halten konnte. Mit ihrem Finger wollte sie den roten Fleck auf der Wange ihrer kleinen Schwester wegwischen, als etwas Seltsames geschah: Kaum berührte sie Sandras Haut, durchfuhr sie ein heftiger Energieschub. Auf einmal empfing sie so viele Gefühle: Angst, Neugier, Nervosität, Aufregung. Sie kamen wie eine riesige Welle, die über ihr zusammenbrach und sie zu ertränken drohte. Ihr Kopf pochte vor Schmerz und die Welt verschwamm vor ihren Augen. Der Lippenstift fiel ihr aus der Hand und kam mit einem klackernden Geräusch auf dem Boden auf.
Und plötzlich war alles wieder vorüber.
„Felicitas? Ist alles in Ordnung?“
„Ja ... es war nur ... ein Schwindelanfall.“ Felicitas' Hand zitterte, als sie den Lippenstift aufhob. „Halt jetzt einfach still, okay?“
Sandra nickte gehorsam. Auf einmal war es seltsam still im Zimmer. Draußen auf der Straße lachten Leute. Felicitas hatte das Gefühl, alles nur noch wie durch eine dünne, durchsichtige Wand wahrzunehmen. Das Gelächter klang seltsam verzerrt, das Ticken der Uhr empfand sie als unregelmäßig. Was war nur los mit ihr?
„Felicitas, ich glaube, das reicht.“
Mit Entsetzen bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit mit dem Lippenstift über Sandras Lippen gefahren war, die jetzt knallrot waren.
„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Ich kann mein Date auch verschieben, wenn es dir nicht gut geht“, bot Sandra an.
„Natürlich geht es mir gut!“ Das Letzte, was Felicitas wollte, war, Sandra ihr erstes Date zu versauen.
„Dann sollten wir uns beeilen.“ Sandra warf einen vielsagenden Blick auf die Uhr.
„Okay, ich mache dir jetzt eine Frisur. Was möchtest du?“
„Keine Ahnung.“
Felicitas seufzte und machte sich daran, Sandras Haare zu kämmen. Immer wieder fuhr sie mit der Bürste durch das seidige, braune Haar ihrer Schwester, bis sie es schließlich zu einem einfachen Dutt zusammenfasste.
„Das müsste reichen. Tom wird begeistert von dir sein!“
„Danke!“ Sandra fiel ihr um den Hals. „Ich wüsste echt nicht, was ich ohne dich machen würde!“
Dann erst stand sie auf, drehte sich ein paarmal vor dem großen Spiegel und rannte schließlich aus dem Zimmer. Ein dumpfer Schlag folgte. „Sandra!“ Felicitas stürzte aus dem Zimmer.
„Es ist ... alles in Ordnung!“ Sandra rappelte sich gerade wieder auf und polterte die Treppe hinunter.
„Vielleicht solltest du lieber deine Ballerinas anziehen!“, rief sie ihrer kleinen Schwester nach. Die Haustür fiel ins Schloss.
„Als meine High Heels“, murmelte Felicitas noch, dann ließ sie sich wieder auf ihr Bett fallen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam erschöpft. Ohne dass sie es wirklich merkte, schweiften ihre Gedanken ab und sie sah wieder den kleinen See vor sich und den Drachen. Er hatte von Wandlern gesprochen. Was waren Wandler?
„Es war nur ein Traum, Felicitas!“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, doch es wollte nicht funktionieren. Was war eben mit ihr los gewesen, als sie all diese Gefühle gespürt hatte, die nicht die ihren gewesen waren? Hätte sie nicht so viel Angst gehabt, hätte sie wahrscheinlich über sich selbst gelacht. Fing sie jetzt schon an, verrückt zu werden? Mit siebzehn Jahren? War das nicht ein bisschen früh?
Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett herum und starrte an die Decke. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.
***
Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr.
„Felicitas.“ Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“ Langsam kam sie auf Felicitas zu. „Mein Name ist Enapay und ich bin wie du: ein Wandler.“
Immer weiter kroch Felicitas zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.
„Ich bin keine Wandlerin“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, „Sie müssen sich irren!“
„Wieso bist du dann Etu, dem goldenen Drachen, in deinen Träumen begegnet? Und wieso konntest du Sandras Gefühle spüren, als wären es deine eigenen? Ich will es dir sagen: weil du anders bist als die anderen Menschen. Du bist eine von uns. Eine Wandlerin.“
„Das kann nicht sein!“, murmelte Felicitas immer wieder.
„Hier kannst du nicht mehr bleiben. Komm mit mir!“ Als Enapay weiter auf sie zukam, bemerkte sie, dass er ein langes, schwarzes Gewand trug. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht.
„Wer sind Sie?“, fragte sie leise.
Enapay antwortete nicht sofort.
„Ich bin ein Wandler, genau wie du“, sagte er schließlich, „und einer der fünf Meister.“
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