„Der was?“
„Es gibt fünf Meister, mehrere Lehrer und Krieger und jedes Jahr einige Schüler. Du wirst eine von ihnen sein. Sie bekommen ihre Kräfte meist in ihren Träumen, verliehen von Etu, dem goldenen Drachen. Er hat dir doch bestimmt schon von uns erzählt, oder etwa nicht?“
„Doch“, murmelte Felicitas, „er hat etwas von Kräften gesagt“, erinnerte sie sich. „Und davon, dass es unsere Aufgabe sei, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Genau.“ Enapay nickte. „Vor langer Zeit vertrieben die Menschen die Drachen aus ihrer Welt, weil sie nicht mehr an die Fantasie glaubten. Die Drachen vereinigten sich in einem Körper und erschufen aus ihren magischen Kräften eine neue Welt: das Land der Träume. Dort warten sie, gefangen im Körper des Drachen Etu, auf ihre Rückkehr. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Das ist doch Quatsch.“ Felicitas lachte leise. „Es gibt weder Wandler noch Drachen.“ Das alles hier war nur ein Traum. Tief in ihrem Inneren wusste sie das.
„Dann erklär mir doch mal, wieso du Sandras Gefühle so deutlich gespürt hast.“
„Das ... das ...“ Felicitas brach ab. „Sie ist meine Schwester!“, fuhr sie Enapay schließlich an. „Natürlich weiß ich, wie sie sich fühlt.“
Enapay kam weiter auf sie zu und ließ sich auf die Kante ihres Bettes sinken. „Sei nicht albern, Felicitas. Du weißt, dass ich recht habe.“ Als Felicitas nur trotzig den Kopf schüttelte, seufzte Enapay.
„Es war wie ein Sturm, nicht wahr?“
Seine Stimme klang sanft und ruhig, als spräche er mit einem kleinen Kind. „Ein Sturm aus Gefühlen, der urplötzlich in dir losbrach. Du wusstest, dass diese Gefühle nicht zu dir gehören, konntest sie in diesem Moment allerdings nicht von deinen eigenen unterscheiden. Es tat weh. Du bekamst Kopfschmerzen und vor deinen Augen verschwamm alles. Dann hörte es wieder auf. So plötzlich, wie es begonnen hatte. Und du fühltest dich nur noch unendlich müde.“
„Woher ...“, murmelte Felicitas leise, doch Enapay unterbrach sie.
„Woher ich das weiß? Weil ich das alles unzählige Male selbst durchgemacht habe. Das ist unser Schicksal als Wandler. Wir besitzen die Gabe, die Drei Ebenen Materie, Gefühl und Traum nicht nur zu verstehen, sondern auch zu beherrschen. Aber sie zu kontrollieren, erfordert viel Übung. Felicitas“, er beugte sich zu ihr vor, „deine Gaben sind gefährlich, solange du sie noch nicht richtig einsetzen kannst. Sowohl für dich als auch für deine Mitmenschen.“
Felicitas zögerte. Sie wusste, dass Enapay zumindest teilweise die Wahrheit sprach. Schließlich hatte sie Etu in ihren Träumen getroffen und sie hatte Sandras Gefühle gespürt, als wären es ihre eigenen. Und zwar in derselben Weise, wie Enapay es beschrieben hatte.
„Du kannst die Drei Ebenen manipulieren, die Träume und Gefühle der Menschen. Und die Materie. Du kannst Gegenstände aus dem Nichts erschaffen, und solange du deine Gaben noch nicht unter Kontrolle hast, bist du gefährlich, Felicitas!“
„Ich bin gefährlich?“ Felicitas‘ Stimme zitterte.
Er nickte. „Ja, solange du deine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle hast. Ja.“
„Was soll ich tun?“, fragte Felicitas.
„Komm mit mir. Es gibt eine Schule, an der du lernen kannst, deine Fähigkeiten zu beherrschen.“
„Aber dann müsste ich meine Familie verlassen.“
Enapay sah sie an und erst jetzt fiel ihr auf, wie strahlend blau seine Augen waren. „Ja. Das ist der Preis für deine Gaben. Und die beste Möglichkeit, die Menschen, die du liebst, zu beschützen.“
„Das ist doch Unsinn!“ Plötzlich schrie Felicitas. Sie wusste selbst nicht, woher diese plötzliche Wut kam. „Es gibt keine Drachen und auch keine Wandler!“
Enapay sah sie lange an. „Ich werde es dir beweisen“, meinte er schließlich und sah sich neugierig in ihrem Zimmer um. „Was in diesem Zimmer ist dir besonders wichtig?“
Unbewusst sah sie auf das Foto, das auf ihrem Schreibtisch stand. Darauf waren Sandra und sie zu sehen, bei ihrem letzten Urlaub vor drei Jahren.
Enapay folgte ihrem Blick und lächelte. „Und jetzt schließe deine Augen“, wies er sie an. Felicitas tat, wie ihr geheißen.
„Strecke die Hand aus und versuchte, dir das Bild vorzustellen. Denke an jedes kleine Detail und ...“
Felicitas hörte schon längst nicht mehr zu. Zu sehr konzentrierte sie sich auf das Foto. Sandras Lächeln. Ihr orangefarbener Bikini. Das endlose, blaue Meer im Hintergrund, auf dem weiße Schaumkronen tanzten. Sie erinnerte sich an diesen Augenblick. Spürte wieder den salzigen Wind in ihrem Gesicht, die Wellen, die kühl ihre Füße umspülten.
Plötzlich spürte sie ein leichtes Gewicht auf ihrer Hand. Erstaunt öffnete sie die Augen – und starrte entsetzt auf das Foto in ihrer Hand. Dann wieder auf das eingerahmte Bild auf dem Schreibtisch.
„Ich habe dir gesagt, dass du Gegenstände erschaffen kannst.“ Enapays Mundwinkel zuckten verräterisch. „Glaubst du mir jetzt?“
Felicitas' Stimme zitterte wieder, als sie antwortete: „Ja, ich glaube Ihnen.“ Plötzlich begann sich ihre Umgebung aufzulösen und Felicitas stürzte in eine endlose Dunkelheit.
***
Als sie die Augen aufschlug, herrschte um sie herum Dunkelheit. Die Gardinen vor ihrem Fenster flatterten im lauen Wind und ein schneller Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es zehn vor zwei Uhr in der Nacht war. Trotzdem knipste sie ihre Nachttischlampe an und sah sich im Zimmer um. Nichts bewegte sich. Niemand war hier. Dennoch ließ sie der seltsame Traum nicht mehr los.
Unbeabsichtigt fiel ihr Blick auf das Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Sie und Sandra vor drei Jahren. Felicitas schloss die Augen und versuchte, sich das Bild möglichst detailliert vorzustellen. Jede Einzelheit. Sandras orangefarbener Bikini, die einzelne, weiße Wolke und das unglaublich blaue Meer.
Beinahe hätte sie laut aufgeschrien, als sie auf einmal ein leichtes Gewicht auf ihrer ausgestreckten Hand spürte. Trotzdem war sie nicht wirklich überrascht, als sie die Augen wieder öffnete und erkannte, dass sie das Foto in der Hand hielt. Nein, nicht das Foto. Nur eine detailgetreue Kopie.
***
„Was siehst du?“ Der große, hagere Mann schritt ungeduldig auf und ab.
„Gar nichts, wenn Ihr nicht endlich still seid!“, fauchte die schwarzhaarige Frau und beugte sich erneut über die silberne Schale.
„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“ Der Mann holte mit der rechten Hand aus, doch die Frau duckte sich routiniert unter dem Schlag hindurch.
„Ich rede mit Euch, wie es mir gefällt, schließlich seid Ihr auf mich angewiesen und nicht andersherum, wenn ich mich richtig entsinne!“
Der Mann ballte die Hände zu Fäusten. Das Schlimme war ja, dass sie recht hatte.
Nur mühsam gelang es ihm, seine Wut zu unterdrücken und ruhig stehen zu bleiben. Er musterte die Frau, versuchte, in ihrem Gesicht irgendwelche Regungen zu entdecken, doch da war nichts. Es schien, als sei sie aus Wachs, still und bewegungslos, während ihre Augen starr auf das Wasser in der Schale gerichtet waren. Die schwarzen Haare fielen ihr lang und glatt über den Rücken.
Eigentlich war sie hübsch. Auf ihre Art. Doch der Mann hatte schon lange nichts mehr für Schönheit übrig.
„Sie hat ihre Kräfte genutzt.“ Die Stimme der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. „Enapay war bei ihr.“
„Verdammt!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Er war mal wieder schneller als ich!“
„Er hat sie nur im Traum besucht, aber morgen Nacht wird er zurückkommen.“
Völlig entkräftet ließ der Mann sich auf einen rot gepolsterten Stuhl sinken. „Scheint so, als hätten sie etwas geahnt“, murmelte er. Lauter fuhr er fort: „Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit ...“
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