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Fortinger, der Chef der Nürnberger Polizei, hatte Behütuns noch vor der Pressekonferenz alle Unterstützung zugesagt. »Machen Sie, was Sie für richtig halten, aber kommen Sie schnell zu Ergebnissen«, waren seine Worte gewesen. Nach einer ersten Besprechung mit Dick und P. A. im Anschluss an die Pressekonferenz forderten sie noch am selben Abend zehn Streifenpolizisten an, die umgehend damit beginnen sollten, sämtliche Nachbarn der kleinen Reihenhaussiedlung zu befragen, ob ihnen etwas aufgefallen sei. Morgen, pünktlich um fünfzehn Uhr, sollten sie mit ihren Ergebnissen aufschlagen. War ein blödes Verb, das wusste er, aber er hatte es benutzt. Und schämte sich schon im selben Moment dafür. Aufschlagen kann man ein Buch, ein Ei oder hart und sich wehtun. Welcher Knallkopf hat nur diese bescheuerte Redensart erfunden? Aber alle führten sie im Mund, plapperten sie nach und fühlten sich toll dabei. Modern. Behütuns nicht. Es würde ihm nicht wieder passieren. Großsprecherisch hatte es geklungen, gar nicht seine Art. Er hatte eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, dass es dringend war und dass sie wenig Zeit hatten für ihre Befragungen. Sollte einer aber etwas Wichtiges in Erfahrung bringen, möge er sich doch bitte umgehend bei ihm melden, hatte er noch angefügt und gehofft, dass das dem »Aufschlagen« seine Peinlichkeit nahm.
Und die Beamten sollten die Umgebung absuchen. Auch den Friedhof. Nach Spuren aller Art, nach der Tatwaffe, nach was auch immer.
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Die drei saßen schweigend da, Behütuns, Dick und P. A. Kurz nach zwanzig Uhr. Hatten Bilder im Kopf, die nicht guttaten.
»Hast du mal die Liste der Kollegen, die die Nachbarschaftsbefragung machen?« P. A. reichte sie Dick. Der ging die Namen durch, las sie halblaut: »Niederwald, Pafenzinger, Rothemund, Liebermann, Burgmair, Trottmann, Schwertler, Kloster, Kugler, Schwarz. Ich werd die gleich noch informieren, dass sie das mit dem Messer wissen. Ist ja vielleicht aufgefallen, wenn einer mit so nem Ding durch die Straße gelaufen ist.«
»Hast du grad Kugler gesagt?«
Dick nickte. »Der steht da drauf, ja.«
»Ist das dieser Runde?«
»Rund?«
»Na ja, dieser Obelix-Typ, der Kuglerde halt.«
»Ach so. Ja, das ist der, ich würde sagen, ein guter, gedrungener Doppelzentner.«
»Ist der nicht bei der Landpolizei draußen bei Erlangen ... Uttenreuth?«
»War er vielleicht mal, ja, aber seit mindestens zwei Jahren ist er hier bei uns in Nürnberg. Wieso, kennst du ihn?«
»Ja, ich hatte schon mal mit ihm zu tun.«
»Gute Erinnerungen?«
»Gute, ja. Weißt duʼs nicht mehr? Damals die Geschichte in Erlenstegen und mit dem Golfplatz ...?«
Jetzt fiel es Dick wieder ein. »Na ja«, schloss Behütuns, wir sehn ihn ja morgen.« Kugler – wie war noch mal sein Vorname gewesen? Richtig: Dagobert. Wie man so heißen konnte. Obwohl, er hieß ja auch Behütuns, er brauchte gar nichts zu sagen. Und auch noch Friedemann. Dem Kugler, daran erinnerte er sich noch, war es bei der Sitzheizung im Wagen genauso gegangen wie ihm: Beide hatten das Gefühl gehabt, sich auf eine vom Vorgänger noch warme Klobrille zu setzen. Es schüttelte ihn innerlich, und er verdrängte den Gedanken, hier gab es Wichtigeres.
Gegen einundzwanzig Uhr verließen sie das Präsidium, heute konnten sie nichts mehr tun.
Als Behütuns daheim noch einmal in seinen Rechner schaute, fand er eine weitere Mail von Luna.
Lieber, lieber Friedo, am Donnerstag (21.11.) soll das Wetter so halbwegs werden. Es bleibt dabei, gleich früh halb neun? Ich kann ja nur bis mittags. Kleingeschaidter Höhe? Oder hast du einen anderen Vorschlag? Ich geh auch jeden Weg von dir. Ich freu mich so ... und bin sooooo nervös. Ich drück dich, deine Luna.
Um halb zwölf endlich, zwei Biere später, versuchte er zu schlafen.
Welcher Tag ist heute? Egal. Hauptsache, es ist nicht schon wieder gestern.
Saša Stanišić, »Herkunft«
II
Mittwoch, 13.11.2019
Sein Handy klingelte, Behütuns schreckte hoch. 0:37 Uhr zeigte es an.
»Ja?«, grunzte er ins Telefon. Entweder war es wichtig oder saublöd.
»Hummel hier, grüß Sie, Herr Behütuns. Oder besser: guten Morgen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich um die Zeit noch anrufe?« Die Stimme wirkte fröhlich. Um die Zeit! Es war die Ärztin aus der Erlanger Gerichtsmedizin. Hatte er überhaupt schon geschlafen? Behütuns war jedenfalls schlagartig hellwach.
»Hallo, Frau Dr. Hummel, nein, nein, Sie stören nicht. Überhaupt nicht. Sagen Sie bloß, Sie arbeiten noch?«
Frau Dr. Hummel am anderen Ende lachte. Er sah sie förmlich vor sich mit ihren leuchtenden Augen. Er hatte schon mehrfach mit ihr zu tun gehabt, war immer wieder eine Freude gewesen – die Zusammenarbeit, nicht der Anlass.
»Aber natürlich, wo denken Sie hin. Meinen Sie, wir warten bei so einem Fall bis morgen? Ich weiß doch, dass es Ihnen pressiert.« So jung sie auch war, schien sie ihm doch schon reichlich hartgesotten. Bei einer Leiche dieses Zustands, die sie ja auch noch hatte sezieren müssen – und wahrscheinlich hatte sie sich gerade erst die Handschuhe abgestreift –, so locker zu sein und sogar zu Scherzen aufgelegt ... na ja, wenn man den ganzen Tag nichts anderes tat, als tote Körper aufzuschneiden und zu untersuchen, musste man das wahrscheinlich können.
»Schießen Sie los.« Schon wieder so eine bescheuerte Formulierung. Was war bloß mit ihm los? Frau Dr. Hummel schien sich nicht daran zu stören, aber sie wurde ganz sachlich.
»Also, der kleine ...«
»Max.«
»Max Rothlauf, ja. Ich habe bei dem Kleinen sieben Stiche festgestellt ...«
»Können Sie etwas sagen über die Art des Messers?«, unterbrach Behütuns sie.
»Einseitig geschliffene Klinge, Typ besseres Küchenmesser, Rücken gerade, vorne spitz zulaufend, etwa dreißig Zentimeter lang, am Schaft viereinhalb Zentimeter stark. Genaueres kann ich Ihnen noch nicht sagen, dazu müssen Sie mir den morgigen Tag schon noch geben. Ist etwas komplizierter. Beziehungsweise den heutigen.«
Behütuns ging nicht darauf ein. »Was meinen Sie mit ›Genaueres‹?«
»Mit welcher Wucht die Stöße ausgeführt wurden. Wie viel das in Kilopond ist, meine ich, das kann ich noch nicht sagen, da müssen Sie noch etwas Geduld haben. Ist nicht ganz so leicht festzustellen bei einem so jungen Körper. Dazu muss ich erst die verschiedenen Knochendichten messen, um exakte Rückschlüsse ziehen zu können. Und in welcher Reihenfolge sie ihm zugefügt wurden, welcher tödlich war und so.«
Kilopond, dass sie so einen altertümlichen Begriff noch benutzte, dass sie ihn überhaupt kannte.
»Aber es waren sieben Stiche. Oder Schnitte. Einer quer übers Gesicht, so wie es aussieht von links unten nach rechts oben, hat die Wange aufgeschlitzt, die Nase, das Auge bis über die Stirn, ein zweiter, dies ein Stich, ging seitlich in den Hals, linke Seite, hat die Schlagader durchtrennt und den Kehlkopf, ein weiterer führt durchs Ohr bis tief in den Schädel, einer kam von oben am Kopf entlang in die Schulter, hat das rechte Ohr fast vollständig abgetrennt, ein weiterer, ebenfalls von oben, ist durchs Schlüsselbein unter das Schulterblatt und tief in die Lunge, und zwei schließlich von hinten in den Rücken, wahrscheinlich von oben her auf den liegenden Jungen ausgeführt. Wirkt auf mich blindwütig, fast wie Raserei.«
Behütuns versuchte augenblicklich, die Bilder im Kopf loszuwerden. Aber ihn interessierte etwas anderes: »Das heißt, er hat seinem Mörder in die Augen gesehen, als der erste Stich kam?«
»Schnitt. Das kann ich Ihnen nicht sagen, ist aber möglich, ja, wenn Sie den Schnitt über Backe, Nase und Auge meinen.«
Behütuns dachte kurz nach. »Und er war sofort tot?«
»Nach dem dritten ganz sicher, definitiv, ja, warum fragen Sie?«
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