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Als Behütuns später daheim seinen Mailaccount öffnete, fand er im Posteingang eine Botschaft von Luna. Abgeschickt schon am Mittag, inzwischen war es nach halb acht. Sein Herz schlug schlagartig schneller. Das ist ja wie bei einem Pennäler, dachte er sich. Von wann war die Mail genau? 12:37 Uhr las er im Protokoll. Er hatte seine privaten Mails seit dem Vormittag nicht mehr gecheckt. Mit klopfendem Herzen las er:
Lieber, lieber Friedo,
bei mir hat sich etwas geändert. Können wir uns vielleicht schon am Freitag treffen? Übermorgen? Ne Stunde oder so rausgehen? Tauchersreuth? Ich würde dich so gerne sehen. Es soll zwar vielleicht regnen, aber dann gehen wir eben mit Gummistiefeln und Schirm. Ich würde mich sooo freuen! Vielleicht kannst du es ja möglich machen?
Ich freu mich auf dich
und drück dich,
deine Luna.
Wie schön! Aber auch saublöd. Natürlich konnte er nicht. Nicht dran zu denken. Nicht im Entferntesten. Wo er doch so gerne gekonnt hätte. »Lieber, lieber Friedo«, hatte sie geschrieben und: »Ich freu mich auf dich«. Aber übermorgen? Ging nicht, völlig unmöglich. Ihn würde die Arbeit in den kommenden Tagen komplett in Anspruch nehmen, das wusste er. Scheiße, das war ja wie früher! Genau deswegen hatte sie ihn verlassen. Na ja, natürlich auch wegen dem anderen. Aber doch auch nur, weil er nie Zeit gehabt hatte. Er überlegte hin und her. Wie sollte er ihr das jetzt sagen? Er verfluchte seinen Job. Was sollte er ihr bloß antworten? Dass sie nicht traurig sein solle? Nicht beleidigt? Sich nicht zurückgestoßen fühlen? Er spürte, dass es ihm irgendwie ernst war – zu ernst. Er holte sich ein Bier und setzte sich vor den Rechner, entwarf Sätze und verwarf sie wieder, probierte Formulierungen und löschte sie wieder, schob Worte hin und her, überlegte, wog ab, las und las wieder. Er holte sich ein zweites Bier, bastelte, entwarf, verwarf – und irgendwann drückte er einfach auf »Senden«.
Ach du, liebe Luna,
hab grad erst deine Mail gelesen, war den ganzen Tag sehr eingespannt, sorry. Du weißt nicht, wie gern ich es möglich machen würde am Freitag. Aber hast du die Zeitung gelesen? Über das Verbrechen in Kraftshof? Ich arbeite gerade Tag und Nacht ... und verfluche den Job ... wieder mal. Bitte, bitte, sei mir nicht böse, aber übermorgen geht es unmöglich, so gern ich auch würde. Lass uns noch bis nächste Woche warten, dann brennt’s hier hoffentlich nicht mehr so. Dienstag vielleicht? Oder schon Montag? Wir haben uns doch sooooo lange nicht gesehen, da läuft uns doch nichts davon, oder?
Ich drück dich,
dein Friedo
Ob das so gut war? Verständnisvoll genug? Und auch zugewandt genug? Mit der richtigen Dosis Gefühl? Ob sie das richtig verstand? So wie er es meinte? Oder war es vielleicht eine Spur zu ... nah? Zu direkt? Oder gar zu ... ja, wie sollte er sagen ... unterwürfig? Zu wenig selbstbewusst? Es lief ihm kalt und heiß über den Rücken. Immer diese bescheuerte Angst, zurückgewiesen zu werden. Diese, seine Urangst, unter der er litt, seit er denken konnte. Er machte sich noch ein Bier auf. Jetzt war die Mail draußen, und es war eh zu spät, sich Gedanken zu machen. Machte er sich aber. Vielleicht konnte er es ja doch noch einschieben irgendwie? Er würde es zu gerne ...
Das Wetter dieses Jahr ist echt Alcatraz. Der Himmel ist schmutzig von heftigem Regen, den der Wind horizontal vor sich hertreibt.
Virginie Despentes, »Das Leben des Vernon Subutex 2«
IV
Donnerstag, 14.11.2019
Als Behütuns früh um kurz nach sieben die Bürotüre öffnete, brannte schon Licht. Kugler saß da und wartete. Es regnete noch immer, nicht stark, aber stetig. Die Erde konnte es gebrauchen nach der Trockenheit des Sommers, die Grundwasserspiegel waren überall noch viel zu niedrig. Und es war dunkel. Lichtarme Jahreszeit.
»Morng, Meister.«
»Morng. So früh schon auf den Beinen?«
Kugler blieb sitzen, Behütuns gab ihm die Hand. »Gibt’s was Wichtiges?« Er stellte seinen Schirm ins Eck, warf seine Jacke über die Garderobe und rieb sich die Hände. Er hätte doch besser Handschuhe anziehen sollen. Aber immerhin hatte ihn der Fußmarsch über Burg, Hauptmarkt und durch die noch fast leere Fußgängerzone im Kopf etwas ruhiger gemacht, fast sortiert, hätte er gesagt. Das nasse Pflaster hatte im Schein der Laternen geglänzt, mal weiß, mal gelb, dann wieder bunt, und trotz der noch herrschenden Dunkelheit hatte man spüren können, dass ein neuer Tag anbrach – und wenn es nur vom Duft der frischen Brötchen und Hörnchen kam, der aus manchem Aufbackladen durch die Straßen waberte. Bäckereien gab es ja nicht mehr, man bekam überall nur noch Backlinge oder das Zeug aus der Fabrik. Das ehrliche Handwerk hatte sich längst verabschiedet, das achtete und bezahlte ja keiner mehr. Lieber fraßen die Leute den Dreck mit jeder Menge Zusatzstoffen. Wusste denn jemand, was da alles drin war? Nee. Und kümmerte es jemanden? Auch nee. Aber sich dann wundern, dass man plötzlich Unverträglichkeiten entwickelte. Für ne gute Semmel und ein gutes Brot brauchst du Mehl, Wasser und Salz, sonst nichts. Und Zeit natürlich, hatte ihm mal ein Bäcker gesagt. Doch was bekam man heute? Trotzdem Appetit, wenn man die Backlinge roch. Oder auch nur daran dachte, so wie er gerade. Hätte er sich doch nur eine Semmel gekauft vorhin, oder ein Hörnchen ... Aber nein! Das Zeug aß er nicht, hatte er beschlossen. Grundsatz. Mit Ausnahmen natürlich. Er schluckte, schüttelte den Gedanken ab und setzte sich auf die Schreibtischkante, erwartete Kuglers Antwort. Keine zwei Sekunden hatte er für den Gedankengang gebraucht.
»Ich dachte, Sie wären wahrscheinlich daran interessiert, den vorläufigen Abschlussbericht der zehn kleinen Polizistileins zu bekommen, die die Nachbarschaftsbefragung rund um den Tatort durchgeführt haben.«
»Sehr sogar. Leider kann ich Ihnen zu Ihren Ausführungen noch keinen Kaffee anbieten.«
Kugler winkte ab. »Danke, ich brauch keinen Kaffee, ich hab ja auch nichts für Sie.«
»Wie, nichts ...?«
»Na ja, nichts halt. Keiner der Nachbarn hat etwas gesehen. Zumindest nichts, was er uns hätte erzählen wollen.«
»Und Sie haben alle befragt?«
»Wir haben alle befragt – haben inzwischen alle angetroffen.«
»Die Kinder auch?«
Kugler machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, Meister, die Kinder nicht, wo denken Sie hin? Außerdem sollten wir sie aus so einem Fall raushalten. Aber wir haben natürlich die Eltern gebeten, dass sie mal beiläufig mit ihren Sprösslingen reden, ganz stressfrei, sofern sie zur fraglichen Zeit daheim oder gar draußen waren.«
Behütuns nickte zustimmend. »Könnte also sein, dass da noch was kommt.«
»Möglicherweise, ja. Nur einen Nachbarn haben wir nicht erreicht. Den vom Haus schräg gegenüber, der 1 g, Sie wissen schon, wo hinten der kleine Pferdeplatz ist und der schmale Weg. Steidel heißt der, Hugo Steidel.«
»Also doch nicht vollständig.«
»Ich würde sagen: doch. Der Briefträger wirft nämlich die Post momentan bei ihm nicht ein, damit der Kasten nicht überquillt, sondern hebt sie für ihn auf, haben sie so ausgemacht. Steidel ist nämlich seit Sonntag im Urlaub. Kommt erst am Sonntag in einer Woche wieder.«
»Fällt also weg.«
»Jepp. Von Teneriffa aus wird er wohl kaum etwas gesehen haben, selbst wenn er da aus dem Fenster geschaut hat.«
»Kugler belieben zu scherzen.«
»Immer wieder gerne.« Die zwei verstanden sich, schon vom ersten Kennenlernen an vor ein paar Jahren. Die Sitzheizung.
»Ich krieg das alles noch schriftlich?«
»Kriegen Sie, die Kollegen sitzen schon dran. Ich wollte nur, dass Sie schon mal über die Essenz Bescheid wissen. Namen, Hausnummern, Zeiten und so kommt alles noch nach.«
»Ich danke Ihnen.« Behütuns hatte sich inzwischen an seinen Schreibtisch gesetzt und zwischendurch ein paar Notizen gemacht.
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