Die Weisen bemühten sich, in der Öffentlichkeit ihre kaltblütige Ruhe zu bewahren. Sie suchten stets nur zu beruhigen, die Aufgeregtesten zu beschwichtigen. Ihre ganze Politik hieß: Zeit gewinnen. So predigten sie Geduld und erhofften zugleich von ihrem geheimen Wissen wie von der Zeit eine günstige Wendung. yy
Die jungen Leute und die Mädchen nahmen an diesen ernsten Dingen wenig Anteil. Sie hatten Besseres zu tun, als in die Klagen der Alten einzustimmen.
No mit seinen Gefährten bereitete sich auf die Prüfungen vor, die ihn erwarteten. Bald mußte er die Seinen verlassen. Die Gesetze gestatteten es nicht, daß ein Sohn, der zum Manne geweiht war, in der gleichen Hütte wohnte, in der seine Mutter und seine Schwester schliefen. Er mußte seine eigene Wohnstätte bauen, bei den Hochzeitsspielen ein Mädchen rauben und mit ihr als seiner Gefährtin leben. Ungeduldig sah er der Zeit entgegen, die ihm das schöne, freie Leben eines erwachsenen Mannes sicherte, der im Rate des Stammes seine Stimme hatte, sein eigenes Herdfeuer besaß und eine Gefährtin und Kinder, für die er sorgte. Doch um diesen ersehnten Zustand zu erreichen, mußte er alle Schrecken und Leiden der Einweihungsfeierlichkeiten über sich ergehen lassen.
Er zwang sich, nicht weiter daran zu denken. Das Verlangen, in den Kampfspielen auf der Wiese, am Flusse, zu siegen, verdunkelte alles andere. Trotz der widrigen Jahreszeit hatten sich die jungen Leute ihrer Kleidung entledigt. Sie maßen im Durchschnitt mehr als sechs Fuß. Verächtlich lächelte man im Stamme, wenn man sich an ein Volk erinnerte, das eine gelbe Haut und geschlitzte Augen gehabt hatte, und dessen Männer nicht einmal fünf Fuß hoch gewesen waren. Während eines langen, strengen Winters war es einmal, kaum zwanzig Familien stark, aufgetaucht. Sie sprachen fremde, unbekannte Worte, waren von Nordost gekommen und – man wußte kaum in welcher Richtung – wieder verschwunden, ohne daß man jemals noch etwas von ihnen hörte. Die Leute vom Fluß hatten manchmal solche Überraschungen, die die Eintönigkeit der Tage unterbrachen.
Die Körper mit Fett eingerieben, übten No und seine Freunde sich im Ringen. Geschmeidig wie Lachse, stark wie Bären belauerten sie einander zunächst, um geschickt einem gestellten Bein oder Untergriff des Gegners auszuweichen. Wenn sie sich dann umschlangen, krachten ihre Knochen; endlich rollten beide Kämpfer im Gras, bis es schließlich einem von ihnen gelang, den Gegner unter sich festzuhalten.
Mädchen und Frauen sahen den Spielen nicht zu, aber die Alten waren da, gaben den Kämpfern ihre Ratschläge und feuerten sie durch ihre Schreie an.
Das Wettlaufen begann. Durch Generationen dauernde ständige Übungen hatten nach und nach den Knochenbau dieses Jägervolkes verändert – die Unterschenkel verlängert, den Brustkorb entwickelt, die Beinmuskeln geschmeidiger und ausdauernder gemacht – so sehr, daß jetzt die besten Läufer unter günstigen Umständen imstande waren, selbst einen flüchtigen Rehbock einzuholen. So hatte jeder einzelne jene Geschwindigkeit erreicht, die ihm und seinem Stamme zur Existenz unerläßlich war. Übrigens unterwarfen sich die Läufer einer streng geregelten Lebensweise. Sie aßen nur die Schenkel von Renntieren und Pferden, um sich auf diese Weise das Wesentlichste der Schnelligkeit dieser Tiere, von denen sie sich nährten, einzuverleiben. Die übrigen Teile der Tiere wurden den anderen überlassen.
Bei ihren Übungen liefen sie immer zu zweit. Zehnmal mußte eine Strecke von etwa zweihundert Schritt, die zwischen zwei Bäumen abgemessen worden war, durcheilt werden. Die harmonische Kraftentfaltung bildete einen prächtigen Anblick: wie gespannt von der Anstrengung war jeder Muskel der ganzen sehnigen Gestalten, der Kopf lag zurückgebogen, das Kinn weit vorgestreckt, breit wölbte sich die Brust gleich jener des Bisons; wie bei den Wölfen war der Unterleib gekrümmt und eingezogen, und die Füße am Ende der schmalen Beine, die viel länger als der Oberkörper waren, schienen den Boden kaum zu streifen. Manchmal fuhren Platzregen peitschend auf sie nieder, dann stiegen Dampfwolken von ihren glänzenden Körpern auf.
No war im Laufen einer der Besten. Wenn ihm für die größeren Entfernungen auch noch der Atem mangelte, so war er doch auf hundertfünfzig Schritte von keinem zu überholen, und der Sieg über diese Strecke war der begehrteste.
Sie übten sich auch im Bogenschießen und Speerwerfen. Die Spitzen der Speere wie die der Pfeile waren aus den Geweihen der Renntiere geschnitzt. Ein guter Jäger traf mit seinem Speer auf fünfzig Schritt. Pfeifend durchschnitt er die Luft und zitterte und schwankte, als wolle er jeden Augenblick aus seiner Bahn ausbrechen. Aber eine Kraft in ihm hinderte ihn daran. Er rammte sich in den Stamm einer jungen Birke. Dann vernahm man einen dumpfen Ton. Die Birke klagte über die erhaltene Wunde. Nichts Schöneres gab es als die Bewegung der jungen Leute, die, ihre Waffe schwingend, losstürmten. Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen, mit dem linken Bein sich vorwärts gegen den Boden stemmend, und der Speer, der ihren rechten Arm machtvoll verließ, schien in der Luft den rasenden Lauf des Jünglings fortzusetzen.
Wenn die Spiele beendet waren, tauchten sie ihre dampfenden Körper in die kalten Fluten des Stromes. Dann legten sie wieder ihre Kleider an und kehrten zu den Wohnstätten zurück, wo sie von den vollbrachten Taten und künftigen Jagden sprachen.
No liebte es, sich des Abends mit den erfahrenen Männern und den Weisen des Stammes zu unterhalten. Er stellte ihnen Fragen über Dinge, die ihn beschäftigten. Die Erde war doch wohl drei bis vier Tagemärsche weit vom Lager noch nicht zu Ende? Was lag dort weiter rückwärts, wo er nicht mehr hinzusehen vermochte? Die Berichte besagten, daß gegen Norden unendliche Eisfelder die Erde bis tief in den Sommer hinein bedeckten. Dort gäbe es nur weiße Bären. Weit hinten im Osten sei eine Grenze hoher Berge, deren schneebedeckte Gipfel bis in den Himmel reichten. Im Süden aber, zehn Tagemärsche weit, sollte ein großes Wasser liegen, und jenseits des Wassers vermutete man auch Länder, die von Tieren und Menschen bewohnt waren. Die Händler allein konnten diese Gegenden durchqueren, denn nur sie standen im freundschaftlichen Verkehr mit jenen Geistern, die anderen den Zutritt verwehrten. In diesen entfernten Ländern war es immer Sommer, und die Menschen nährten sich dort von dem, was auf Bäumen wuchs.
Zu diesem Punkt versicherten die Weisen, daß nach sehr alten Berichten in einer Epoche, von der kaum noch eine ganz dunkle Erinnerung übriggeblieben war, die Eintracht auf der Erde herrschte. Damals töteten die Menschen nicht, um zu leben; sie nährten sich nicht von blutigem Fleisch, sondern von Pflanzen und Früchten. Glücklich lebten sie in Frieden mit unseren Brüdern, den Tieren. Ach! seither war Zwietracht entstanden und trennte Menschen und Tiere in zwei für ewig feindliche Lager. Ströme von Blut waren vergossen worden, die eine Versöhnung unmöglich machten ...
Über die Welt der Geister aber schwiegen die Weisen, denn es war nicht geziemend, darüber vor der Einweihung zu sprechen.
No besaß auch Freunde, die älter waren als er selbst, und die er gern aufsuchte. Zweien von ihnen, die besondere Handfertigkeit besaßen, oblag es an den Wänden der Hütten und Grotten, in Renntiergeweih und Mammutzähne die Tiere nachzubilden, die das Land bevölkerten. No sah andächtig ihrer Arbeit zu. Dank ihrer Kunst waren es fast wirkliche Tiere, die man vor sich hatte, so wunderbar waren sie in ihren Stellungen und Bewegungen erfaßt. Das eine ihrer Leben blieb frei da draußen in Wäldern und auf Wiesen, doch das zweite war durch zauberhafte Macht in ein Stück Elfenbein oder an die Felswand gefesselt, aus der die begabte Hand des Künstlers es herausgegraben hatte. No mühte sich, dem Beispiel seiner Freunde zu folgen. Er verstand, warum es so notwendig sei, in Naturtreue das Tier nachzubilden, das man festhalten wollte. Der Geist des Tieres mußte durch die Ähnlichkeit so weit getäuscht werden, daß er das Bild zu seinem Wohnsitz wählte. Der geringste Fehler genügte, ihn die Täuschung erkennen zu lassen und er kam nicht. Dann bleibt nichts als ein totes Stück Horn und ein lebloser Stein in deinen Händen ...
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