Rolf Käppeli
Vom Ende einer Rütlifahrt
Roman
Ausflug in Kriegszeit Die Schweiz im Jahr 1944 war vom Kriegsgeschehen umgeben. Der Betriebsausflug einer chemischen Fabrik aufs Rütli – zugleich die Hochzeitsreise des Patrons – wird zum Spiegel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation des Unternehmens und der Belegschaft. Die Reise legt die Stimmung der Menschen jener Zeit offen. Sie endet nach einer fröhlichen Fahrt auf dem Vierwaldstättersee.
Rolf Käppeli macht mit dieser patriotischen Reise ein Stück weit das widersprüchliche Leben und Überleben im Kleinstaat Schweiz im Zweiten Weltkrieg erfahrbar. Welche Anpassung ist angesichts des Inseldaseins den Menschen zumutbar? Welcher Patriotismus ist opportun? Wie nehmen Frauen ihn wahr, wie die Männer? Zwänge am Arbeitsplatz prägen das Oben und Unten in der Fabrik. Die Reise mit dem Raddampfer »Schiller« an den historischen Ort, den viele als Geburtsstätte der Schweiz sehen, wird zur patriotischen Erfahrung der besonderen Art.
Rolf Käppeli, geboren und aufgewachsen in Luzern, lebt mit seiner Lebenspartnerin in Uetikon im Kanton Zürich. Er studierte Germanistik, Pädagogik und Geschichte und arbeitete als Bildungsfachmann, Lehrer, Schulberater und Journalist. In den 1970er-Jahren war er Redaktor bei den Tageszeitungen „Luzerner Neuste Nachrichten“ und „Zürcher Tages-Anzeiger“. 1995 veröffentlichte er eine literarische Reportage sowie später ein Sachbuch und mehrere Romane. In der Zeitschrift „Grosseltern“ publizierte er eine monatliche Kolumne.
Der vorliegende Roman ist zwar von wahren Begebenheiten inspiriert, aber dennoch ein rein fiktionales Werk. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Tatsachen, Orten oder Personen sind daher rein zufällig.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brunnen_and_the_Mythen,_Lake_Lucerne,_Switzerland-LCCN2001703120.jpg
ISBN 978-3-8392-6856-8
Sie schaut über den dunklen See hinüber zum Hang, wo von der Häuserzeile am Horizont ein lichter Wald zum Ufer abfällt. Die Schatten der Bäume deuten nach Nordwesten, hin zum Gelände, wo die Toten ruhen.
Ins Friedental.
Emma Gamper sitzt im Extrazug nach Luzern. Mit ihrem Mann Gottlieb und einem befreundeten Paar, Heinrich und Rosmarie Tinner, haben sie in einem Viererabteil Platz gefunden. Im gleichen Wagen reisen Arbeitskollegen, die zur Ausflugsgesellschaft gehören.
Mit den Tinners verbringen die Gampers den einen oder anderen Sonntag bei einem Glas Wein im Garten oder sie machen bei schönem Wetter eine Wanderung mit den Kindern im Glarnerland.
Emma betrachtet den nüchternen Raum, mustert die Hüte auf den Ablagen über den schmiedeeisernen Stützen und schmunzelt. Die riechen nach Filz, Fest und Feiertag wie die Röcke und Frisuren der Frauen und die Anzüge, Gilets und Schuhe der Männer. Ihr Blick streift die Holzbänke, deren Farbe abblättert.
Es ist Dienstag, der 11. Juli 1944.
Der Zug verlangsamt die Fahrt. Emma schaut schräg hinunter auf die glatte Fläche. Das Wasser spiegelt die Umrisse des Pilatus.
»Welch märchenhafter Anblick: das Schilf, die Bäume, Wasservögel!«
Das Lächeln überstrahlt die Falten in Emmas Gesicht.
»Im Rotsee zu schwimmen, muss traumhaft sein, da zu rudern – ein Genuss.«
Am anderen Ufer steigen Menschen in ein Boot.
»Schau dort drüben, Godi, das Fährihaus mit dem Schiff, das die Leute über den Göttersee bringt.«
Gottlieb unterbricht das Gespräch mit Heinrich und schaut durchs Fenster. »Der Eindruck täuscht, Emma, was du siehst, ist eine Kloake. Die Abwässer der Umgebung fließen ungefiltert in den See, er hat keine Strömung. Das Leben darin stirbt ab.« Der schmächtige Mann verzieht das Gesicht. »Ich möchte nicht eintauchen in den Morast.«
Heinrich steht auf, zieht das Fenster herunter und beäugt die Gegend. Das metallene Rattern der Räder dringt wuchtig in den Wagen.
»Auf dem Seegrund liegen Handgranaten.«
Der Fahrtwind zerzaust Emmas Haar. Verständnislos schaut sie zu Heinrich. »Handgranaten?«
Rosmarie blickt ungläubig hoch, in ihrer Stimme schwingt ein vorwurfsvoller Unterton mit: »Was erzählst du da, Heiri, machst du Witze?«
Heinrich schüttelt den Kopf. »Vor knapp 30 Jahren explodierte auf der anderen Seeseite ein Munitionsmagazin, in der Nähe der Badeanstalt. Hunderte von Granaten flogen ins Wasser, sie liegen auf dem Seegrund – noch heute.«
Alle lehnen sich vor, um die Uferstelle zu sehen, wo Heinrich hinzeigt. Die Mitfahrenden machen neugierige Gesichter, Köpfe drehen sich, Gespräche werden unterbrochen. Kollegen von der Spedition haben Heinrichs Bemerkung mitbekommen, zwei Frauen aus dem Büro sind aufgestanden, um einen Blick ans gegenüberliegende Ufer zu werfen.
»Woher weißt du das?«, fragt Gottlieb, dessen Mundwinkel unmerklich zucken, als erwarte er eine Geschichte, die ihm zupass kommt.
Heinrich setzt sich wieder.
»Vor fünf Jahren am Schützenfest in Luzern erzählte mir ein Kollege davon, wir waren mit der Sektion der Feldschützen am Eidgenössischen. Beim Mittagessen auf der Allmend haben wir einander kennengelernt und darüber gesprochen.«
Emma runzelt die Stirn. »Kamen bei dem Unglück Menschen zu Schaden?«
»Fünf Personen starben. Es muss mitten im Krieg passiert sein, ich glaube, 1916. Auf dem Friedhof, an dem wir vorüberfahren, soll eine Gedenkstätte stehen, die der Bund finanziert hat. Für die Angehörigen der Opfer sammelte man Geld.«
Es wird still in der Runde, nachdenklich schauen sie zum Fenster hinaus. Gottlieb drängt Heinrich, mehr über den Vorfall zu berichten.
»Es müssen über 1.000 Handgranaten gewesen sein, die eine private Firma für das Militär hergestellt hatte.« Heinrich zündet sich eine Zigarette an; die Aufmerksamkeit im Wagen, die er mit seiner Äußerung ausgelöst hat, ist ihm sichtlich ungewohnt. Für einmal interessiert man sich in seiner Umgebung nicht für Gottliebs prononcierte Meinungen zu Armee und Politik, sondern für ihn.
»Im Gespräch haben wir zufällig herausgefunden«, fährt Heinrich mit ernster Miene fort, »dass der Vater des Schützenkollegen zwei Jahre später zum Bataillon gehörte, das im November 1918 Ordnungsdienst beim Landesstreik in Zürich leistete. Die Soldaten kamen aus dem Luzerner Hinterland. Der Kollege konnte nicht wissen, dass mein Vater unter den Streikenden war – und verprügelt wurde.«
Gottlieb nickt zustimmend und schaut Heinrich eindringlich an. »Beim Generalstreik kam es nicht bloß zu Prügeleien, Heiri, es gab Tote.« Er verschränkt die Arme. »Die Luzerner sind mit Maschinengewehren angerückt. Verletzt und getötet wird man in der Schweiz nicht vom äußeren Feind, der innere ist in den Augen der Obrigkeit gefährlicher, selbst in bitteren Tagen wie …«
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