Stefan Sprang
„Kriegt wer wen?“ – Vom Ende im Anfang der Liebe
10 Storys plus Bonustracks
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Inhaltsverzeichnis
Titel Stefan Sprang „Kriegt wer wen?“ – Vom Ende im Anfang der Liebe 10 Storys plus Bonustracks Dieses ebook wurde erstellt bei
PROLOG: Als Kanada zu uns kommt …
Frankfurt – Wien - Frankfurt
Wenn das Licht angeht
Junge trifft Mädchen
Mili
Salatbar
An-ni-ka, An-ni-ka
Das blaue Wunder
Flughafen, Ankunft
EPILOG: Hanna im Glück
Bonustrack 1: An der Straße der Au-Pair-Mädchen
Bonustrack 2: Exponat 145
Impressum neobooks
PROLOG: Als Kanada zu uns kommt …
… verwandelt sich alles. Vor allem meine Zukunft.
„Kanada“ steht in der Mitte der Pausenhalle. Sie könnte Einssechzig groß sein, aber auch kleiner. Ihre Strahlkraft mindert das nicht. Sie ist ein Leuchtturm inmitten der Wogen. Ich weiß noch nicht, dass sie Brandi heißt, aus Toronto kommt, Austauschschülerin ist. Sie steht dort, namenlos und regungslos, ein heimliches Zentrum in einem Wirbel aus Schülern. Die rennen herum, stoßen aneinander, werden auf neuen Kollisionskurs geschleudert, halten kurz inne mit dem instinktiven Willen, sich weiter treiben zu lassen – der Stillstand wird folgen.
Vor dem Schwarzen Brett drängen sich jene, die noch nicht ihre neuen Stundenpläne abgeschrieben haben; vorsätzlich fallen gelassenes Papier von Schokoriegeln segelt auf glänzend gebohnerte Fliesen, die das Stimmengewirr vervielfachen.
Das Bild habe ich niemals vergessen. Es ist, wie ein Dichter es einst beschrieben hat: Man wird es noch finden können, wenn ich gestorben bin. Man könnte mich obduzieren und nachschauen, da wäre es: im Hirn und im Herzen, vielleicht wären die Farben ausgebleicht. Aber es wäre da.
Brandi ist sechzehn. Schwarzes Haar fällt auf schmale Schultern, ein Pony schwebt dichten Augenbrauen entgegen. Ihre Augen aber sind blau, so leuchtend wie die roten Klammern, die ihre Frisur in Strähnen bändigen. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Diese Geste habe ich später immer wieder bei Frauen beobachtet: Wenn sie Schutz suchen, weil die Welt ihnen mal wieder oder schon seit langem nicht geneigt genug erscheint. Oder wenn sie dies behaupten wollen. Oft klemmen sie dazu die Säume ihrer stets zu langen Ärmel in die Hand. Nicht Brandis Art. Stattdessen umklammert sie vor einer dunkelgrünen Strickjacke mit zu langen Ärmeln eine Mappe, ein Element mehr in jenem Bollwerk, das sie in diesem Moment sein möchte. Ich sehe, wie sie die fremde Luft einsaugt und mit unauffälligen Blicken die unbekannten Jungen und Mädchen beobachtet.
Ich habe sie noch nie gesehen, sie muss also eine neue Schülerin sein. Denkt sie, dass dies der erste Tag einer neuen abenteuerlichen Zukunft ist, der sie eigentlich mit offenen Armen begegnen sollte? Ich kann mich nicht entscheiden: Sieht sie „nett“ aus? Darin liegt kein Geheimnis. Ist sie „süß“? Das wäre herablassend. Oder „hübsch“? Das wäre zu wenig. Es ist etwas, für das ich noch kein Adjektiv habe. Auch ich stehe nun reglos, sie ist ein Pol, ich bin der andere, spiegele ihre Haltung und blicke sie geradeheraus an. Es ist ein Versprechen, in dem ich mich verliere für die kommenden Wochen. Dann ist Brandi verschwunden. Und ich stehe dort immer noch und merke erst jetzt, wie still es geworden ist. Die Stunde hat begonnen.
Was ich damals vor dreißig Jahren nicht bedacht habe: Ich war nicht der einzige, dem Brandi aufgefallen ist. Alexander, der Adlige; Jens, der Athletische; Marcus, der Rebellische; Sascha, der Schönäugige – sie alle wurden im Schatten ihrer Phantasien zu Insekten; ihre Facettenaugen: verwirrt von Brandis kanadischen Lichtstrahlen. Reiner waren die als der Glanz einer perfekten Vollmondnacht. Sie alle lenkte ein archaischer Autopilot auf die Quelle zu in spiralförmigen Bahnen. Vergessen wurden: Birgit, die Ponyhofprinzessin; Jutta, die rote Zora; Katharina, das Rapunzelchen; Ulli, das Tittenwunder; neben all denen, die nicht einmal für würdig befunden waren, vergessen zu werden.
Ich komme zu spät in den Klassenraum. Noch nie ist der „Nachrichtensprecher“ zu spät gekommen. Seit einiger Zeit weiß ich, dass sie mich den „Nachrichtensprecher“ nennen. Immer bin ich pünktlich, ich rede überdeutlich und korrekt, es stimmt, was ich sage. Wenn ich etwas sage. Ein Kompliment war es nicht.
Heute bin ich tatsächlich Nachrichtensprecher. Aber niemand sieht mich bei der Arbeit, denn ich spreche nur im Radio. Es ist ein Lokalsender. Mein Publikum ist überschaubar, aber stets bin ich konzentriert und souverän – ich stelle mir vor, dass ich zur ganzen Nation sprechen darf.
Ich habe damals nicht daran gedacht, dass der Platz rechts von mir noch frei ist, der Stuhl in der ersten Reihe neben dem Eingang. Brandi. Schon von der Tür aus kann ich ihn fühlen, den wolkenlosen Himmel unter einer Sonne, die blühende Bäume und Blumen kitzelt. Ihr Parfum, frischester Frühling an einem durchschnittlichen Spätsommertag. Ich aber werde katapultiert in einen nordischen Dezember, nackt und hilflos stehe ich im Schnee: Kann man sehen, dass ich bibbere? Hört man das Herzklopfen? Die Tische zittern. Stühle wackeln. Die Fensterscheiben halten es nicht auf. Die Schallwellen gehen über den Schulhof hinaus und immer weiter …
Am Ende der Stunde spricht sie mich an. Ihr Akzent, minimal: „Hi, du warst ja noch nicht da. Ich bin Brandi aus Toronto in Kanada.“
Tief hole ich Luft und verkünde meine Nachricht: „Dort steht das höchste Gebäude der Welt.“
Sie schweigt, runzelt die Stirn.
„Der Fernsehturm, über fünfhundertfünfzig Meter.“
„Oh, das wusste ich noch nicht. Great.“
Dann steht sie auf, klemmt ihre Mappe unter den Arm und geht und nimmt den wolkenlosen Himmel mit und weiß nicht einmal, wer ich eigentlich bin und hat auch nicht gefragt, wer es ist, der alle Zeit der Welt unter diesem Himmel verbringen will.
Ab sofort übe ich mich darin, die Stunden neben Brandi zu verbringen ohne tosenden Puls. Dafür mit klarem Kopf, denn ich brauche einen Plan, mit dem ich mehr erschaffen kann als das höchste Gebäude der Welt.
Am Beginn eines Tages lächelt sie mich manchmal an, einen Moment zu lang, mit unbewegten Augen: „Hi, wie geht’s dir?“
Es ist jene geradlinig übersetzte Floskel, auf die man antworten muss: „Fein, danke!“
Was nicht stimmt, denn ich weiß, dass ich etwas tun muss. Und ich weiß ebenso, dass ich immer noch keinen Plan habe.
Wenn Brandi sich langweilt, zeichnet sie auf ihren Block schnell mustergültige Kopien, Szenen aus den „Peanuts“: Charlie Brown, sein Drachen, wie er unter einem wolkenlosen Himmel landet im Drachenfresser-Baum. Ich schreibe „Super!“ auf den Rand meines Heftes und schiebe es in ihre Richtung. Brandi liest, schaut auf – und dieses Mal lächeln auch ihre Augen. Aber ich, ich kann nicht zeichnen, kann nicht Gitarre spielen wie Sascha, der Schönäugige, bin nicht sehnig und kräftig wie Jens, der Athletische.
Geduldig warte ich auf den Tag, an dem wir unseren Klassenausflug machen, nach Trier.
Die Wetteraussichten: Die Bewölkung nimmt zu. Am Nachmittag Schauer bei zehn bis fünfzehn Grad. Der Wind kommt aus Ost bis Nordost und ist überwiegend mäßig. Weitere Aussichten: überwiegend stark bewölkt und kühler.
„Kanada“ sitzt in der rechten Reihe vor mir am Fenster, neben Alexander, dem Adligen. Neben mir Ulli, das Tittenwunder. Die hat ihre Haare zu einem blonden Kranz geflochten; ein Bauernmädchen, auf den Wangen ein Rot wie aus einem ganzen Korb Erdbeeren. Das Holz vor ihrer Hütte, es reichte für mehr als einen Winter. Aber ich träume von anderen Jahreszeiten. Ich beuge mich vor und sehe zwischen den Sitzen hindurch: Alexanders Profil. Lange Buckel-Nase, verschlafener Blick. Er ist der junge Mann auf dem Zehn-Mark-Schein. Seine blonden Locken trägt er allerdings deutlich kürzer. Niemals geht er ohne sein dunkelblaues Sportsakko aus dem Haus. Seine Stimmung erkennt man daran, ob er den obersten Knopf seines weißen Hemdes geschlossen hat oder nicht. Alexander, der Adlige, hat den Knopf offen gelassen. Er redet auf Brandi ein, in perfektem Englisch. Er hat Verwandte in Yorkshire.
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