Hartmut Zwahr - Ende einer Selbstzerstörung

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Als im Oktober 1989 Zigtausende über den Leipziger Innenstadtring zogen, war einer unten ihnen der Historiker Hartmut Zwahr. Aus der Sicht eines Zeitzeugen heraus notierte er seine Beobachtungen von den entscheidenden
Wochen des Jahres 1989, in denen die Menschen aufbegehrten. In diesem Buch berichtet der Autor vom Erlebten mit einem Blick für die unvergleichliche Dramatik der Ereignisse. Er stellt kritische Fragen nach dem, was war und dem, was geschehen wird. Und er hat mit der Akribie eines Wissenschaftlers zusammengetragen, was damals auf den Leipziger Straßen geschah: Welche Sprüche und Transparente kamen auf? Wer lief in den Reihen mit und wie änderte sich das Bild der Montagsdemonstrationen im Spätherbst 1989?
Und jetzt, fünfundzwanzig Jahre danach, ist das Buch dank des unermüdlichen Fleißes des Autors eine geschichtliche Quelle erster Güte, die ein umfassendes Bild von jener Zeit gibt. «Ende einer Selbstzerstörung» ist damit auch ein Debattenbeitrag, der in seiner unverfälschten Wahrhaftigkeit dort aufklärt, wo in der Nachbetrachtung im wiedervereinigten Deutschland erste Mythen und Legenden sich um das Geschehen von damals zu bilden beginnen.

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Ende einer Selbstzerstörung

Leipzig und die Revolution in der DDR

Hartmut Zwahr

Ende einer

Selbstzerstörung

Leipzig und die Revolution in der DDR

Ende einer Selbstzerstörung - изображение 1

Hartmut Zwahr, geboren 1936 in Bautzen, Studium der Geschichte und Germanistik in Leipzig, dort 1963 Promotion, 1974 Habilitation; 1978 Professur an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, von 1992 bis 2001 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig.

Buchveröffentlichungen der letzten Jahre: Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte (Leipzig 1990); Revolutionen in Sachsen. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Weimar/Köln/Wien 1996); Leipzigs Messen 1497–1997 (Mitautor; Köln/Weimar/Wien 1999); Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und »Prager Frühling«. Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970 (Bonn 2007); Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 2: Das neunzehnte Jahrhundert 1830/31–1909 (Mitautor; Leipzig 2010).

Umschlag

Titelbild: Auf dem Ring, 30.10.1989, Montagsdemonstration, rechts der Hauptbahnhof, Osthalle; Fotografie Michael Korcz, Leipzig Rückseite: »Gespräche am Karl-Marx-Platz« im Gewandhausfoyer am 29.10.1989, Gesprächsleitung Kurt Masur; Fotografie Uwe Pullwitt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

ISBN 978-3-86729-122-4

E-Book (epub) ISBN 978-3-86729-522-2

E-Book (pdf) ISBN 978-3-86729-523-9

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten.

© Sax-Verlag, Beucha • Markkleeberg 2014

Erstausgabe bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993

Einbandgestaltung: Birgit Röhling, Markkleeberg

www.sax-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Einleitung

Zur Leipziger Neuauflage

Selbstzerstörung

Selbstbefreiung

Vorspiel: We shall overcome . Leipzig am 25. September 1989

Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit! Leipzig am 2. Oktober

Im Feierton

Exkurs: Staatsterror

Der 7. und 8. Oktober in Ost-Berlin

Allerhöchste Weisung und Drohung

Wir sind das Volk! Leipzig am 9. Oktober 1989

Verfall und Zerfall des administrativen Systems

Die Mauer muß weg! Leipzig am 6. November

Zeitzeugenschaft. Kommentar

Wende in der Wende:

Die nationale Revolution – Deutschland einig Vaterland!

Das Ende der Stasi

Beginnender Macht- und Systemwechsel

Ein neues Deutschland

Zum Schluß

Heinrich August Winkler: Mehr als ein Zusammenbruch.

Hartmut Zwahr über die Revolution in Leipzig und das Ende der DDR

Anmerkungen

Personenregister

Einleitung

Dies ist das Buch eines Leipzigers, von Beruf Historiker, über die Ereignisse 1989 in Leipzig und die Revolution in der DDR. Das Erlebte, die Erfahrungen haben sich jeweils schon am Abend nach den Montagsdemonstrationen beim Berichten verdichtet, dann noch einmal, wenn Bekannte, Freunde, Kollegen kamen, um Genaueres zu hören. Später folgten Vorträge und Diskussionen an den Universitäten Rotterdam und Leiden und an der Volkshochschule Bielefeld, im März und im Mai 1990, danach am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. In dieser Zeit ist das Manuskript entstanden, im Wesentlichen habe ich es bis zum Herbst 1990 niedergeschrieben. Während der Bearbeitung für den Druck habe ich es nur noch wenig ergänzt, und dies überwiegend in den Anmerkungen. »Ende einer Selbstzerstörung« war auch schon der Titel des Vortrages in Rotterdam. 1

Die Selbstzerstörung der DDR endete mit einer Selbstbefreiung. Sie war für viele Menschen in den fünf neuen Bundesländern eine wichtige gemeinsame Erfahrung und ist das bis heute geblieben. Die Wege der Erinnerung in die davorliegende bizarre Welt des vormundschaftlichen Staates 2sind inzwischen immer weniger begehbar. Neue Wirklichkeiten sind entstanden und haben in vertraute Räume Einzug gehalten. Der Blick mancher Zeitgenossen ist schärfer, genauer geworden, der anderer hat sich getrübt. Zuweilen führt das zu Irritationen, wenn Beteiligte über dasselbe sprechen. In dieser Situation ist das Buch entstanden. Es schadet nichts, wenn ihm das anzumerken ist.

Der Anfang war das Aufschreiben beim Gehen, während der Demonstrationen. Die Menschen waren bis auf den Grund aufgewühlt und hatten die Angst überwunden, auch die Angst vor dem Aufschreiben und Aufgeschriebenwerden. Wer, außer dem Historiker, dachte in diesen Augenblicken daran, daß es die Normalform zeitlichen Abstandnehmens ist, Erlebtes zu vermengen, zu vergessen?

Der Himmel über den Leipzigern war grau. Sie gingen durch die Düsternis der Montagabende, durch Schmutz und Absterbeluft. Sie skandierten Massenrufe, klatschten mit Händen in Handschuhen den Takt, sangen. Sie alle waren aus sich herausgegangen. Zuvor hatte es viele Gründe gegeben, seine Identität zu verbergen. Die Folge war die Maske – das Schafsgesicht, wie auf Wolfgang Mattheuers Gemälde »Geh’ aus deinem Kasten« (1985) im Sprengel Museum in Hannover. Der Leipziger Maler zeigt dem Betrachter eine Szene der Selbstbefreiung. Einer, der nicht länger mit zwei Gesichtern leben kann, der zu sich selbst gekommen ist, verläßt das Gehäuse, in dem er wie eingeschlossen gelebt hat. Die Tür geht auf, und er, ein Noah unserer Tage, wirft seine Kleider ab, nackt entschlüpft er ins Freie. Sein Gefährte bleibt wie versteinert zurück und verbirgt sein Gesicht weiter hinter der Maske mit dem Schafsgesicht, während das Gehäuse zu brennen anfängt. Das Bild führt also auch dies vor Augen: Selbstzerstörung. Auf der rechten Bildseite ist der Kopf eines bärtigen Mannes zu sehen, zu dem ein ausgestreckter, den Weg weisender Arm gehört. Die Hand zeigt dorthin, wohin niemand geht. Die andere Hand liegt, einen Dolch haltend, auf dem Fußboden. Ein geöffneter Schrank ist (bis auf eine kleine Kugel) leer. Eine Hand, die in eine Richtung weist, in die niemand geht; ein Schrank, der (fast) leer ist – das besagt doch wohl: Ende. Der Titel des Bildes, Geh’ aus deinem Kasten , mahnt zum Ausbrechen und zum Aufbruch. Mit einer solchen selbstbestimmten Entscheidung begann die Selbstbefreiung.

Die Tür in die Freiheit sprang in den Montagsdemonstrationen weit auf, die Leipziger haben sie zuerst geöffnet. Irgendwo neben der Straße, auf der die Demonstranten zu Tausenden gingen, lagen die Masken mit dem Schafsgesicht, die sie so lange vor die Gesichter gehalten hatten. Über vieles hatten die Leipziger hinweggesehen, geschwiegen. Bis sie darüber erschraken, wie abgestumpft sie waren. Vielleicht erschraken sie zum ersten Mal, als sie erfuhren, daß der Auwald austrocknete, weil die Braunkohlentagebaue, die an den Rändern der Stadt fraßen, das Grundwasser absenkten; oder als ihnen eines Tages über den bunten Messefahnen und -fähnchen die blinden Augen der Geschäftshäuser in der Hainstraße auffielen, Häuser, die zu den ältesten Leipzigs gehörten. Oder als sie plötzlich sahen, daß ein zeichnendes Kind reagierte, wo sie selbst längst stumm geworden waren. Ich erschrak über drei Wohnhochhäuser, die auf der Schülerzeichnung eines Elfjährigen aufragten; in einem davon war er zuhause. Wo keine Wohnblöcke waren, füllte grauschwarze Luft den Raum vom Himmel bis zur Straße, auf der zwei Autos, ein blaues und ein rotes, wie auf den Grund eines Pfuhles gesunken, zu sehen waren. Auf der anderen Bildhälfte, durch einen Pinselstrich getrennt, winkte ein gelbes Haus mit Giebel. Darüber schwebten vier blaue Wolken, und vor dem Haus floß ein Bach durch eine Wiese. Wer von denen, die in den Demonstrationen gingen, hatte kein solches oder ein ähnliches Haus im Kopf? Wer hatte kein Wunschbild vor Augen? Schließlich weigerten sich die Männer und Frauen, die Schüler und Lehrlinge, in das reale Haus ihrer Ängste, der Verbote und Demütigungen zurückzukehren. Die Fahrt in den Betrieb, in die Schule am Morgen nach der Demonstration war eine solche Rückkehr. Der Ausbruch aus der geschlossenen Gesellschaft bleibt ein Fixpunkt in der Biographie der Beteiligten. Er kann helfen, Irritationen zu widerstehen, die vom Gang der Dinge im vereinten Deutschland ausgelöst werden. Dazu gehört auch die Idee, daß es vielleicht besser gewesen wäre, dies alles hätte gar nicht stattgefunden.

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