»Analysen zur Wende« nannten die Herausgeber die Beiträge zu dem Band »Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR«. 3Wende oder Revolution? Die friedliche Revolution brachte die Wende! Sie führte den Machtwechsel und über diesen schließlich auch den Systemwechsel herbei. Daß es ein bloßer Zusammenbruch war, kann ich aus dem Erleben heraus nicht bestätigen. Wer die Wucht der Demonstrationen nicht gespürt und deren langen Rhythmus nicht verarbeitet hat, dem ist Wesentliches entgangen.
Der Mecklenburger Uwe Johnson hat das Leipzig seiner frühen Universitätsjahre rückblickend die eigentliche und die wirkliche Hauptstadt der DDR genannt. Das parteiadministrative System hat die Vision eines neuen Deutschlands erdrückt, für die hier, in Leipzig, etwa die Geistigkeit eines Ernst Bloch, Werner Krauss, Julius Lips, Walter Markov, Hans Mayer stand. 4Wirklichkeit wurde der autoritäre Gegenentwurf einer neuen deutschen Republik der (Berliner) »Gruppe Ulbricht«. 5Es hat innere Logik, daß es Bürger und Bürgerinnen Leipzigs waren, die mit der Demontage des parteiadministrativen Systems begonnen und schließlich dessen Ende herbeigeführt haben. Der ungestüme Aufbruch in eine bessere DDR endete mit ihrem Untergang.
Zur Leipziger Neuauflage
Nachbemerkung vom Dezember 1989 anläßlich der Fahnenkorrektur von »Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte« (Urania-Verlag Leipzig / Jena / Berlin):
»Was ich über HERR und KNECHT, einen Gegenstand dialektischer Sozialgeschichte, schrieb, hat immer auch mit der Freiheit des Menschen zu tun. Knecht und Magd können den Herrn zum Rollentausch zwingen, Freiheit und Würde haben sie damit noch nicht errungen. Oder ein Dritter stößt den Herrn vom Stuhl, auf den Kunze sich setzt, und Hinze wird sein Fahrer (Volker Braun: Hinze-Kunze-Roman, Halle-Leipzig 1985) oder sein Spitzel.
MIELKE-KNECHTE schämt euch – haben Dresdner groß an die Mauer des auf dem östlichen Elbufer gelegenen Objekts Bautzener Straße geschrieben. Widmen möchte ich das Buch denen, die in Leipzig am 2., am 7. und am 9. Oktober in der Innenstadt und auf dem Ring gegen das System der Selbstzerstörung dieses Landes und seiner Menschen demonstrierten. Möge die Revolution es dauerhaft überwinden … Leipzig, Dezember 1989.« 6
Aus der Absicht, jenes grundstürzende Geschehen zu dokumentieren, das Teil einer großen europäischen Freiheitsbewegung war, 7entstand »Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR« – mit Vorträgen im März 1990 an den Universitäten Rotterdam und Leiden, später an der Volkshochschule Bielefeld und dem Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Zum 38. Deutschen Historikertag in Bochum, September 1990, habe ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht das Manuskript eingereicht; es ist mit einiger Verzögerung 1993 erschienen. Die Ausgabe mit dem Umschlagbild von Wolfgang Mattheuer »Geh aus deinem Kasten«, 1985, Öl auf Leinwand, erzielte in kurzer Zeit zwei Auflagen. Auszüge sind vor allem für die Schule nachgedruckt worden. 8
Das Buch ist schon lange vergriffen, und so war es der wiederholt erklärte Wunsch des Sax-Verlages, den Text nach Leipzig zurückzuholen, wo er entstanden ist und wovon er wesentlich handelt. Diesem Angebot und der Möglichkeit zu Erweiterungen der inzwischen stets und ständig ansteigenden berichtenden und Forschungsliteratur bin ich dankbar gefolgt. Ergänzende Titel in den Anmerkungen stehen kursiv. Weitere Hinzufügungen sind im laufenden Text mit einer grauen Hintergrundfläche kenntlich gemacht. Der Beitrag »Zeitzeugenschaft. Kommentar« und ein weiterer zur Leipziger Montagsdemonstration vervollständigen die Neuauflage; Letzterer ist überschrieben mit »Die Mauer muß weg! Leipzig am 6. November« . Ihn aufzunehmen, darauf hatte der Göttinger Verlag seinerzeit verzichtet. Sprechchöre und Transparente zeigen die Unumkehrbarkeit des Geschehens, das dem Fall der Berliner Mauer vorausging. Mein Kommentar zur Zeitzeugenschaft, damals, ist getragen vom Wissen um die Unsicherheit von Erinnerung und von deren Verlust durch Vergessen.
Ein Vierteljahrhundert ist seit der friedlichen Revolution vergangen, und ich sage von Herzen Dank für die Leipziger Neuausgabe dieses Buches, die der Sax-Verlag, vertreten durch Frau Birgit Röhling und Herrn Lutz Heydick, in die Wege geleitet hat. Vandenhoeck & Ruprecht hat die Verlagsrechte ohne Zögern zurückgegeben, Heinrich August Winkler seine Besprechung »Mehr als ein Zusammenbruch. Hartmut Zwahr über die Revolution in Leipzig und das Ende der DDR« (DIE ZEIT, 6.8.1993) zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Ich danke auch ihnen.
Leipzig, Januar 2014 Hartmut Zwahr
Selbstzerstörung
Im Herbst 1989 stand in der DDR die Metapher ›Rettung‹ für das Bewußtsein des großen Ausmaßes an individueller wie kollektiver, materieller wie moralischer Zerstörung, Selbstzerstörung. Rettet unsere Altstädte! – mit diesem Aufruf wandten sich Denkmalpfleger Ende Oktober 1989 an die Öffentlichkeit. 10Im November wurde der Zerfall ausgedehnter Gründerzeit-Wohnviertel Leipzigs in dem bedrückend-eindrucksvollen Film »Ist Leipzig noch zu retten?« des DDR-Fernsehens zum ersten Mal landesweit und zugleich von der bundesdeutschen und der internationalen Öffentlichkeit wahrgenommen. Rettet die Buchstadt Leipzig, forderten die Belegschaften Leipziger Verlagshäuser Anfang März 1990. Rettet Leipzig, Dresden, Altenburg, Weimar, Meißen, Görlitz, Bautzen usw. Und die Menschen? Sie waren von innen mindestens so kaputt wie die Häuser. 11
Sie hatten in einem System realsozialistischer Selbstzerstörung gelebt. Es war im autoritär-stalinistischen Sozialismus angelegt und nahm Gestalt an, nachdem die Arbeiterrebellion vom 17. Juni 1953 und die Parteirebellion Rudolf Herrnstadts gegen Ulbricht 12gescheitert waren. Danach umschloß das Politbüro Ulbrichts die Fehlkonstruktion eines Systems autoritärer Herrschaft und zentralistischer Planwirtschaft mit dem Sicherheitspanzer des Machterhalts. Der Schutzschild gegen das eigene Volk wurde nach dem Aufstand in Ungarn 1956 verstärkt, als die Parteiprominenz die Wohnungen am Majakowski-Ring in Berlin-Pankow verließ und in die entfernte Waldsiedlung Wandlitz umzog. Das ›Wandlitzsyndrom‹ 13entstand. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde der Sicherheitspanzer zum »antifaschistischen Schutzwall«. 14Als Breschnew und Ulbricht, die Führungsfiguren der Verschwörung gegen den demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei, 15dort die Alternative zum autoritären Realsozialismus zerstörten, verlor dieser weitestgehend seine Reformfähigkeit. Die Selbstzerstörung wurde international stabilisiert und war seitdem wohl endgültig unumkehrbar. Als Gorbatschow die Perestroika in Gang setzte, 16hatte diese Zerstörung ein solches Ausmaß angenommen, daß Systemzerfall und die Notwendigkeit zu völliger Neuordnung der Gesellschaft auch in der Sowjetunion am Ende der Wende zur Selbstbefreiung standen.
Der entscheidende Konstruktionsfehler des ›real existierenden Sozialismus‹ war ökonomischer Natur. Alle Erfahrungen laufen in dem Kernpunkt zusammen, den Karl Korsch 1912 hervorgehoben hat, als er feststellte, daß der Sozialismus »eine ausreichende Konstruktionsformel für die Organisation der Volkswirtschaft noch nicht gefunden hat«. 17Logischerweise müsse nach einer bestimmten Zeit eine Zerfallskrise des Sozialismus eintreten. Ohne Selbstkorrektur bleibe er »eine Entwicklungsstufe zu einem dann nur noch mit Gewalt zu verhindernden Kapitalismus«. 18Die demokratische Revolution in der DDR verlief mit dieser Logik. Der ökonomische Konstruktionsfehler im ›real existierenden Sozialismus‹ hatte zugleich einen irreparablen Demokratieverlust zur Folge, weil die assoziierte Arbeit in dieser Dimension eben nicht ohne den autoritären Zugriff auf den Menschen auskam. 19Der Dramatiker Heiner Müller hat von der feudalsozialistischen Variante der Aneignung des Mehrwerts gesprochen, bei der »das Volk als Staatseigentum eine Leibeigenschaft neuen Typs« erleide. 20Der Verlust an Demokratie war, wie die Geschichte der realsozialistischen Länder zeigt, meistens schon in die Staatsfundamente eingelassen. 21Auf dieser Grundlage verlief die Selbstzerstörung in geradezu systematischen Formen. Sie hat auch die in der Angst Lebenden beschädigt. Die Verursacher der Angst sind aber ebenfalls gezeichnet. So hat schon der Fall des Anwalts und Stasi-Informanten Schnur, Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs, nicht nur einen Täter gezeigt.
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