Hartmut Zwahr - Abschiednehmen

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Wer auf diesen Wegen im «Lausitzroman» entlang geht, wird vielleicht selbst eine Familiengeschichte zu erzählen haben, die eigne, die andere, von der man weiß, gehört hat, und sich wiederfinden. Das kann die Literatur. «Abschiednehmen» – das sind Geschichten von Verlust, Schmerz, Bitternis, Verirrung, wie sie die Zeit der beiden großen Kriege hervorbrachte, als massenhafte Vernichtung und Beschädigung von Leben. Ein Junge, Johannes, wartet auf den Heimkehrer, den Vater. Da ist längst wieder Schule, und die neue Zeit, so heißt sie, hat angefangen. An einem Tag im März '45, als die Jungs in der Mühle ankamen, die bald nicht mehr HJ-ler heißen werden, inmitten von Soldaten, Nachbarn, Geflüchteten und Vertriebenen, den «Umsiedlern», beginnt das Buch. Es gibt keinen Ich­Erzähler. Es fängt an.

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Hartmut Zwahr

Abschiednehmen · Lausitzroman

Alle Ähnlichkeiten in Ort und Zeit, auch Namensgleichheit mit Lebenden und Toten sind zufällig und dem Umstand geschuldet, dass Figuren und Strukturen unter bestimmten Bedingungen einander entsprechen.

Umschlagbild: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Fotografie Oscar Meister, um 1900 »Oberlausitz. Spreetal und Singwitz gegen Bautzen. Blick vom Nordhang des Mönchswalder Berges (Nachträgliche Bearbeitung Sax-Verlag)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN (Print) 978-3-86729-229-0

ISBN (EPUB) 978-3-86729-561-1

ISBN (PDF) 978-3-86729-562-8

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© Sax-Verlag, Beucha · Markkleeberg, 2019

Umschlaggestaltung: Sax-Verlag, Markkleeberg

www.sax-verlag.de

Hartmut Zwahr

Abschiednehmen

Lausitzroman

Sax-Verlag

Nur wenn unsere Geschichten erzählt werden, können wir erfahren, dass unsere Geschichten zu Ende sind, sonst würden wir weiterleben, als ob wir etwas fortsetzten (beispielsweise unsere Geschichte), das heißt, also, im Irrtum leben.

Imre Kertesz, 2003

Prolog

1995

Er sah, dass er zu spät gekommen war. Ein Ausdruck von Zufriedenheit lag auf ihrem Gesicht. Deine Studenten wollen in die Ferien, hatte sie gesagt. Die pralle Julisonne draußen. Der steckengelassene Schlüssel. Die Wolldecke mit den grünen Karos in der Tür. Er wartete. Die Zivis waren die ersten, die Hallo sagten, sie sagte das auch: Hal-loo! Bist du’s, mein Junge? So verscheuchte sie sein banges Gefühl, sie so hilflos wiederzusehn. Das Fenster stand offen. Im Bett das Spankörbchen und der geschenkte Teddy, den sie ertrug, in seinen giftgrünen Hosen mit rotem Halstuch, den hatte die Sozialstation mitgebracht. Das Flurlicht war an, die Schwester hatte vielleicht in den Spiegel geguckt. Den Blick über die Wiesen liebte sie, bis sie diesen Himmel nicht mehr sehen wollte, die Wiesen nicht, das Dorf, die Piepmätze, die aufs Fensterbrett geflogen kamen.

Ein Fahrrad klingelte. Das wird Ronny sein, der Nachbarjunge, der sie manchmal besuchte. Er sah die Blässe, die ihr Gesicht erfasste. Wenn er klopft, steht der Ronny schon in der Türe. Der klopft, wenn du da bist. Vor dir hat er Dampf. Die Freude des Augenblicks war über ihr Gesicht gehuscht, als sie das sagte, nicht lange, meist verfiel sie in Schweigen, als befände sie sich in einem Tal, in das sie immer tiefer hineingeriet. Wenn sie aufblickte, war ein Stück Himmel da. Das Leben waren die Wiesen, sie wartete auf das Sterben, wollte lieber zur Tür sehen. Diese Lichtfülle, die sich auf sie warf, wenn es hell wurde. Das Grün an den Bäumen lockte, das ockerfarbene Bahnhofsgebäude, das Dorf, Ronny.

Den hört man gar nicht, so leise kommt er herein. Der kommt sich sein Bongsel holen, der Racker, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen, der weiß genau, wo die Bongsel liegen. Ob er sich mal eins genommen hat? Ich glaubs nicht, der hat sich kein Bongsel genommen, der weiß doch, dass er immer was von mir bekommt, der ist ehrlich, und wie sie das sagte, war sie aus dem Gespräch herausgesprungen. Mutter ist tot. Er fing an, zu begreifen, was passiert war.

Mit leisem Hallo war die Schwester eingetreten und verstummte. Sie drückte Johannes die Hand. Ihre Mutter war tapfer, ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Sie band der Toten die Armbanduhr ab, nahm den Leuchter von der Kredenz, zündete eine von den Kerzen an.

Die mähen, sagte sie. An der Straße stand ihr Auto. Er sah den Traktor wenden. Ich ziehe die Gardine nicht zu.

Die Wiesen lagen in voller Sonne, weit draußen reckte sich die Eiche, deren Schatten nicht gebraucht wurde. Es gab die Heu­wenderinnen nicht mehr. Auf dem Ausziehtisch die weiße Decke zurückgeschlagen, Sommerblumen, die Schnabeltasse halb gefüllt, daneben Waschlappen, Medizin, das Kerzenlicht. Auf dem Fernseher sprangen Mutters Blumenkinder in den Frühling hinein, so lange das Jahr dauerte; ein Schneeglöckchen weiß wie Schnee, ein Himmelschlüsselchen, das Vergissmeinnicht, dem die Blütensternchen fehlten. Die Figürchen hatten sie begleitet, und schließlich waren die Blumenkinder in der Schlafstube auf der Kredenz gelandet.

Das Fenster am besten offen halten, sagte Schwester Konstanze: Lehrer Heinrich ist auch gestorben, Freitag vor Pfingsten, den werden Sie gekannt haben. »Du darfst Manfred zu mir sagen«, erinnerte sich Johannes, da war ich Junger Pionier, er im Blauhemd, vielleicht Anfang zwanzig, als er das auf dem Schulhof sagte, Mutter einundvierzig. Wie lange der Mensch lebt. Die Kriege! Die Zeit danach. Die Schwester räumte das Geschirr in die Küche. Die Einheit! Die Kiwis, damals. Dass sie davon gesprochen hatte, fiel ihm ein.

Du stellst dich gerade vors Licht. Ich will nicht mehr. Hat sie das wirklich gesagt? Das war die letzte Tour, ich will nicht mehr gucken, ich will wieder heim. Rolf, der Cousin, war zu Besuch gekommen. Du, als Brigadier, hatte sie ihm geschmeichelt. Er: Schon lange nimmi (nicht mehr), itze tu’ch verreisen. Von der Traudel der Junge hoat sich scheidn loassn, war bei jedem Feste mit der Frau dabei, die hatten nich mal Zeit zum Stehenbleiben, und nimmt sich ne andre. Traudel is drüber krank geworn.

Oh je, hörte er Mutter sagen.

Den Kopp hätt se sich nich machen solln, sagte Rolf, als er ging. Die Bunten sind ja voll von solchen Geschichten. In dem blauen Tonkrug standen noch seine Blumen.

Dass ihr euch immer versteht, ihr beiden. Sie meinte uns, mich.

Die Schwester faltete einen Plastebeutel auf, sammelte die Tabletten ein. Es war gut, dass Ihre Mutter nicht ins Heim gekommen ist, die hat sich auch nachts nicht gefürchtet. Die viele Medizin, die ich schlucke, brauch ich nicht mehr, hätte sie gesagt.

Ein Auto fuhr an. Er erinnerte sich, dass der Ingenieur von nebenan mit der Familie in den Urlaub gefahren war, und ich war losgefahren, Prüfungen abnehmen. Er stand am Zaun und guckte hinterher, wie ich zum Bahnhof ging. Er hatte für sein Bienengrundstück jemand gefunden, während ich dachte, er stößt die Bienen ab, seit er mit Nippes handelt, auch die Garage bleibt, der Mercedes mit dem Hänger für den Nippeskram stand davor; das ist geklärt, seit mit der Einheit alles zu haben ist. Die nutzen jetzt den Garten gemeinsam, dafür macht der Nachbar das Gras ab. Bloß das Haus von der Jojo verfällt immer mehr. Wenn Marielouises Mutter nicht mehr ist, sagte er, fallen Reparaturen an. Bloß gut, dass das Dach auf Ihrer Seite noch dicht ist, er meinte mich, und ich sagte, nein, bei Mutter läufts rein. Den Tag kam die Sozialstation. Er fragte: Wie geht’s ihr denn? Mal besser, mal schlechter, und die Schwester nickte, als ich sie zum Auto begleitete. Sie legte den Finger an den Mund. Die müssen nicht alles wissen. Im Unterbewusstsein war Ihre Mutter hellwach, sagte die Schwester, die Papierwindeln in den Plastebeutel stopfte. Sie versprach, die Heimbürgin zu benachrichtigen, Frau Grube, die werden Sie kennen, den Mann auch. Ich versteh’s, wenn Sie nicht im Zimmer bleiben wollen. Sie verabschiedete sich.

Ich muss im Haus Bescheid sagen. Er ging telefonieren. Der Fahrdienstleiter, die rote Mütze auf dem Schreibtisch, winkte ihn herein. Man kannte sich. Die Kollegin am Schalter stellte keine Fragen, hinter der Glasscheibe zählte sie die Minuten. So lief das Telefonieren ab, wenn ich für Mutter anrief. Als sie noch laufen konnte, hatte ihr die Gemeinde versprochen, am Bahnhof eine Öffentliche einzurichten, nichts passierte, weder zur Volkswahl, als ihr das zum ersten Male versprochen wurde, noch beim zweiten Mal, mit einem Mal war die DDR zu Ende.

Heute zählte die Weichenstellerin hinter der Glasscheibe die Minuten, die zu bezahlen waren. Hoffentlich treffe ich Eichler nicht. Er wird fragen, wenn er mich auf der Treppe sieht, wie’s Mutter geht. Ist gereizt, seit sie ihn entlassen haben. Aber niemand war zu sehn.

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