Tick-tack.
Tick-tack.
Tick-tack.
Ich war zweimal auf der Toilette gewesen, hatte eines der Bücher angefangen zu lesen und den Schrank komplett umgeräumt.
Tick-tack.
Tick-tack.
Tick-tack.
Und inzwischen lag ich bäuchlings auf meinem Bett und versuchte, durch das Vortäuschen von Interesse für den sich langsam vorwärts bewegenden Zeiger einem Abdriften in die Leere zu entgehen.
Mir.
War.
Langweilig.
Megalangweilig.
Doch Langeweile war weitaus besser, als an den Dolch in meinem Herzen zu denken. Entschlossen, aber langsam, um keinen Schwindelanfall hervorzurufen, setzte ich mich auf, klappte die Omunalisuhr zu und stand vorsichtig vom Bett auf. Gerade hatte ich den Entschluss gefasst, abermals den Schrank umzuräumen, als plötzlich die Tür ohne jegliche Vorwarnung aufschwang und zwei durch die Kälte rotnasige Mädchen in den Krankensaal gestürmt kamen.
»Lucy!« Denise’ Kreischen schwappte über vor Freude, und eine Sekunde später fand ich mich in ihren Armen wieder.
Charlotte folgte ihr wie immer stumm, doch nachdem sie eine kleine Tüte auf dem Nachtisch abgestellt hatte, schloss sie mich nahezu genauso stürmisch wie Denise in die Arme.
Denise wickelte sich den Schal vom Hals und warf sich auf mein Bett. »Du Arme! Du musst den ganzen Tag in diesem schrecklichen Zimmer verbringen«, murmelte sie mitleidig. Doch dann setzte sie sich auf und strahlte von einem Ohr zum anderen. »Aber ich freue mich so, dass du endlich wieder da bist! Außerdem muss ich zugeben, dass ich mich irgendwie auch darüber freue, dass Atlas mit dir zurückgekommen ist. Als ihr ‒ du, Atlas und James ‒ gegangen wart, schien es mir so leer im Wohnzimmer. Drei Nocturnals weniger, das merkt man schon. Außerdem hatte niemand wirklich Lust, etwas zu spielen. Na, und seit James die Erinnerung über die Sache mit dem bevorstehenden Kampf zurückbekommen hat, üben selbst Cedric und Harvey lieber zu kämpfen, als Mensch ärgere dich nicht zu spielen.«
Mein Kopf schwirrte von den ganzen Sätzen, und ich ließ mich neben sie sinken.
Charlotte nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Sie deutete auf die Tüte. »Wir haben dir etwas zu essen mitgebracht. Zufällig haben wir mitbekommen, wie Caitlin Rose über deinen Aufenthaltsort unterrichtet hat, und weil Rose keine Zeit dazu hatte, haben wir vorgeschlagen, dir das Essen zu bringen.«
Ich lächelte dankbar, obwohl ich nach wie vor keinen Appetit hatte.
Denise nahm eine meiner schwarzen Locken in die Hand. »Wirklich erstaunlich, deine Typveränderung. Du siehst wunderschön aus. Hättest du nicht diese roten Augen, könntest du glatt als Schneewittchen durchgehen. Wobei … goldene Augen hätten auch nicht zu Schneewittchen gepasst.« Sie schnippte die Locke weg und klatschte in die Hände.
Ihre stürmische Art hatte ich schon fast vergessen.
»Aber jetzt erzähl. Wie war die Reise?«
Unbehaglich rutschte ich hin und her. »Ganz … interessant?«
»Das klingt wie eine Frage.«
»Es ist … ach, ich weiß auch nicht. Es ist einfach so viel passiert.«
Charlotte beugte sich vor und legte ihre Hand, die trotz der winterlichen Temperaturen warm war, beschwichtigend auf meinen Arm. »Du musst uns nicht alles erzählen. Für heute Abend wurde ein Treffen in der Versammlungshalle anberaumt, bei dem Atlas uns alles von der Reise erzählen wird. Wenn du willst, kannst du ihm auch das Ganze überlassen. Vorerst reicht es uns auch, dass du einfach da bist.«
Denise nickte bekräftigend, und ich atmete erleichtert auf. Doch dann stutzte ich und runzelte die Stirn. »Atlas wird heute Abend über alles berichten?« Hatten wir uns nicht gestern noch darauf geeinigt, niemandem etwas zu verraten, aus Angst, der Spion könnte wichtige Informationen dadurch erhalten?
Denise nickte. »Ja. Weshalb irritiert dich das?«
»Tut es nicht«, log ich und schüttelte den Kopf.
Wenn Atlas seine Meinung geändert hatte, dann musste es einen Grund dafür geben. Allerdings hätte ich gern über diesen Grund Bescheid gewusst. Laut sagte ich jedoch nur: »Ich … würde nur gern mit ihm noch einmal sprechen, das ist alles. Könnt … könnt ihr ihn bei mir vorbeischicken?« Ich wusste, dass ich mich dadurch selbst an den Rand des Zumutbaren brachte, doch es ging nicht anders. Zum einen wollte ich wirklich wissen, warum er seine Meinung geändert hatte. Und zum anderen war da immer noch ein Teil in mir, der sich nichts sehnlicher wünschte als seine Nähe. Auch, wenn mich der Schmerz umbringen würde.
Auf Denise’ Gesicht stahl sich ein freches Grinsen. »Geht es dabei wirklich nur um die Reise?«
Ich erstarrte, fing mich aber glücklicherweise rasch. Geistesgegenwärtig verdrehte ich die Augen und ließ mich auf den Rücken fallen. »Worum denn sonst, Denise?«
»Na ja, uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen …«
Mein Körper verkrampfte. Ich hatte es doch niemandem außer Rose erzählt, woher sollte sie etwas wissen? Woher sollte sie von uns beiden wissen? Von uns beiden, die Worte taten weh. Doch was wunderte es mich? Tat gerade nicht alles weh?
»Jedoch geht es dabei nicht unbedingt um dich.«
Ich erlaubte mir, leise aufzuatmen.
»Sondern um Atlas. Es heißt, er sei all die Jahre nicht aus Liebeskummer so griesgrämig gewesen, sondern aus Hass auf Amelie. Und sich selbst. Demzufolge müsste er also frei sein für eine neue Liebe. Ich habe gehört, dass manche es bereits versuchen. Weißt du, ob das stimmt?« Ihr Gesicht tauchte über meinem auf, und der unermüdliche Hunger nach Klatsch und Tratsch war deutlich in ihren Augen zu erkennen.
»Fragt ihn doch selbst.« Ich drehte mich zur Seite weg und stand auf.
Jetzt war es an Denise, mit den Augen zu rollen, doch sie hakte nicht weiter nach. Stattdessen erzählte sie mir von den anderen Gerüchten. Oh ja, sie hatte noch immer diese Vorliebe für Klatsch aller Art, und es war das erste Mal, dass ich wirklich zuhörte.
»Also soweit wir wissen, fangen all die Mädchen, die Atlas ohnehin schon immer angeschmachtet haben, wieder an, sich Hoffnungen zu machen. Irgendwer hat auch erzählt, dass der Atlas-Fanclub wieder ins Leben gerufen wurde.«
»Ein Atlas-Fanclub?« Ich konnte es nicht fassen.
»Ja, allerdings.« Denise nickte ernsthaft. »Atlas war schon immer beliebt bei den weiblichen Augenschönen. In gewisser Weise durchaus verständlich, er sieht gut aus …«
Das war so was von untertrieben!
»Ist einigermaßen nett …«
Wenn er wollte, dann war er es nicht nur einigermaßen, sondern …
»Und anscheinend küsst er auch noch ziemlich gut.«
Was?
»Wobei ich mich frage, woher die das wissen wollen. Außer Amelie hat Atlas meines Wissens noch nie eine Augenschöne geküsst, und ich weiß quasi alles, was mit Klatsch zu tun hat.«
Ich verschwieg ihr die Neuigkeiten, die sie noch nicht wusste. Wahrscheinlich würde das, was zwischen Atlas und mir während unserer Reise geschehen war, hier in der Tratschküche einschlagen wie eine Bombe. Das Ganze würde in die Geschichte der aufregendsten Ereignisse eingehen, wenn ich etwas sagen würde.
Zu meiner eigenen Verblüffung stahl sich ein leichtes Grinsen auf meine Lippen, als ich mir vorstellte, wie Denise reagieren würde, wenn ich etwas sagte wie »Also meiner Meinung nach ist Atlas kein guter Küsser, sondern der beste überhaupt« oder »Wirklich, Denise, jetzt bin ich aber enttäuscht. Du sagst, du würdest alles wissen, aber über den neuesten Tratsch für den Atlas-Fanclub weißt du noch nichts? Einer begeisterten Klatschtante wie dir hätte ich zugetraut, dass du auch über Atlas und mich Bescheid weißt.« Aber schon bei dem Gedanken an Atlas’ und meine gemeinsame Zeit hätte ich gequält brüllen können.
»Wir waren auch einmal im Atlas-Fanclub, Charlotte, erinnerst du dich? Wir haben uns damals hineingeschmuggelt, um herauszufinden, was die dort machen. Als wir entdeckten, dass sie eigentlich nur alle schmachtend über ihn redeten und überlegten, wie sie ihm näherkommen könnten, sind wir schnellstmöglich abgehauen. Wenigstens konnten wir dann mit unserem Insiderwissen angeben, und ich habe den Artikel Atlas, der Frauenschwarm in meinen Schriften beenden können.«
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