Sperling saß in der Falle, und dieser Weißkittel flatterte um seinen Käfig herum und machte sich lustig über ihn. Sperling platze der Kragen. Er brüllte los: »Meine Kollegen sind bereits auf der Suche nach mir, und dann werden Sie die Konsequenzen zu spüren bekommen. Machen Sie mich auf der Stelle los.« Sperling war von sich selbst überrascht. Er bebte innerlich. Und doch, vielleicht konnte sein Wutanfall den Arzt einschüchtern, vielleicht war dessen überhebliches Selbstvertrauen nur vorgeschoben.
»Nein.« Vartans Antwort war knapp. Er nickte gelassen, zog spöttisch seine Augenbrauen hoch und sonnte sich in seiner Überlegenheit.
»Nein …, also nein?« Sperling schluckte.
»Das ist alles?«
Es entstand eine für Sperling unbehagliche Pause. Vartan räusperte sich und durchbohrte ihn mit einem zynischen Blick aufgesetzten Mitleids.
»Schauen Sie, Sie sind aktenkundig in der Psychiatrie. Sie sind akut schizophren psychotisch und hochgradig suizidgefährdet, und da spricht wohl kaum etwas dagegen, dass es uns trotz aller unserer Bemühungen nicht gelingen wird, Sie davon abzuhalten, sich tragischerweise das Leben zu nehmen. Selbstverständlich wäre das nicht rühmlich für uns, aber Wunder können auch wir nicht vollbringen. Das ist sicher bedauerlich, aber ich nehme an, Sie verstehen?«
»Sie wollen doch nicht …?«
»Ich will. Da können Sie beruhigt sein. Nur ist meine Geduld begrenzt, so wie Ihre Zeit. Wäre das anders, fände ich es durchaus interessant herauszufinden, wie lange es dauern würde, bis Sie mich anflehen, endlich sterben zu dürfen. Doch wie gesagt, es geht mir um Wichtigeres.«
Aus den Fängen des Arztes gab es für Sperling kein Entkommen. In dem Moment, in dem Vartan das gesuchte Passwort hätte oder herausfände, dass er das Wort gar nicht kannte, ginge es ihm an den Kragen. Zu viel wusste er bereits. Seine einzige Möglichkeit bestand darin, die Absurdität seiner Lage an seinen Gegenspieler zurückzugeben. »Ich kann Ihnen das Wort doch gar nicht sagen, weil Sie mich dann umbringen müssen.«
Ein boshaftes Lächeln huschte über das Gesicht des Arztes, und das Blau seines nicht verdeckten Auges schien dämonisch aufzuleuchten. »Da haben Sie wohl nicht ganz Unrecht.« Diesen Satz ließ sich der Psychiater auf der Zunge zergehen, kostete unverhohlen sein kunstvoll nachgeschobenes Schweigen genüsslich aus. »Wir oder vielleicht besser Sie stehen offenbar vor einem tragischen Dilemma. Ob Ihre Willenskraft so stark sein wird, sich zu beherrschen? Na, wir werden sehen: Ein Vöglein schwatzt wohl manches …«
»… kein Mensch doch kann’s verstehen.« Intuitiv griff Sperling den Ball auf, erkannte im selben Moment die Stimme Vartans wieder als diejenige des Sängers, der so bedauernswert falsch die Opernaufnahme begleitet hatte. Ein Begeisterter und doch Gescheiterter stand hier vor ihm.
Der Arzt wurde von Sperlings Kennerschaft überrumpelt und empfand auf einmal einen gewissen Respekt für sein Opfer. Ein geheimes Band war geknüpft. »Ich glaube, Sie beginnen mir zu gefallen.«
Sperling war unschlüssig, ob er sich über diesen Anflug von Zuneigung freuen sollte. Aber wenn er überhaupt eine Chance in diesem Spiel bekommen sollte, dann lag sie jetzt vor ihm, und er musste sie ergreifen. »Sie haben mich in der Hand. Das steht außer Frage. Sie können mich quälen, gegen Sie bin ich machtlos. Nur bleibt Ihnen das Risiko, dass ich trotzdem schweigen werde. Und sollte mir durch Ihre Torturen etwas zustoßen, laufen Sie Gefahr, zu spät an das Codewort zu kommen, denn auch Ihre Zeit ist begrenzt, wie Sie sehr wohl wissen. Wie ich Ihnen schon sagte, muss ich doch davon ausgehen, dass Sie mir etwas antun werden, sobald ich Ihre Forderung erfülle. Sie sehen, ich brauche von Ihnen eine Sicherheit, dass mir nichts geschehen wird. Warum sollte ich Ihnen dann das Wort nicht einfach geben und sogar ein wenig an dem partizipieren, was für Sie oder für wen auch immer dabei herausspringen mag? Was habe ich schließlich mit dieser Geschichte zu tun?«
Der Oberarzt blickte ihn misstrauisch prüfend an, doch Sperlings Argumente trafen offensichtlich seine Denkweise. Sperling spürte, dass er seinen Köder geschluckt hatte.
»Besorgen Sie mir eine Garantie, und machen Sie mir ein Angebot, das verlockend genug ist, dass ich ihm nicht widerstehen werde.«
Sperling empfahl sich dem Psychiater als Gleichgesinnten an, und der war empfänglich dafür, biss endgültig an.
»Da muss ich mit gewissen Leuten Rücksprache halten.«
Erleichtert nahm Sperling zur Kenntnis, dass seine Strategie, Zeit zu gewinnen, vorerst aufgegangen war. Er hatte sich den Respekt des Arztes verschafft, der allenfalls zu bedauern schien, dass ihm sein Spielzeug sadistischer Lust abhandenkam.
Vartan stand auf und stellte seinen Stuhl zurück an den vorgegebenen Platz neben dem Waschtisch. »Vorerst bleiben Sie in der Fixierung, damit Sie nicht in Versuchung geraten, sich aus unserer Abmachung herauszustehlen. Dafür erlasse ich Ihnen bis auf Weiteres die Medikamente, werde aber, damit alles seine Ordnung hat, in Ihrer Krankenakte vermerken, dass ich Ihnen eine Spritze mit einem Depot gegeben habe, deren Wirkung einige Tage lang anhält. Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, dann belassen wir es im Augenblick dabei, und ich werde wieder auf Sie zukommen, sobald ich mehr weiß. So viel Zeit bleibt uns ja, und wer weiß …« Mit dieser vieldeutigen Bemerkung verließ der Psychiater den Raum.
Erleichtert und erschöpft von der Anspannung, in der er sich während des Schlagabtauschs mit seinem ungleichen Kontrahenten befunden hatte, sackte Sperling die wenigen Zentimeter zurück, die sein Bewegungsspielraum zuließ. Vartan hatte das Licht angelassen, und so konnte Sperling erstmals seinen eigenen Zustand und seine Umgebung genauer inspizieren. Um seine Hand- und Fußgelenke herum waren lederne Riemen geschnürt, die am Gestell des Bettes befestigt waren. Sie ohne das dazu notwendige Werkzeug zu lösen, war unmöglich. Er trug ein weißes Anstaltshemd und lag unter einer Decke, unter der seine nackten Füße hervorlugten. Außerdem hing um seinen Hals an einem Bindfaden ein Schlüssel, dessen Zweck ihm nicht einleuchtete, der aber offensichtlich nicht zum Lösen seiner Fesseln taugte.
Die Einrichtung des übermäßig hoch wirkenden Raumes war spartanisch. Direkt über ihm hing an der mit weißen Styroporplatten verkleideten Decke eine grell leuchtende Neonröhre. Die Wände waren cremeweiß getüncht. Ihm gegenüber standen ein karger Waschtisch ohne Spiegel, daneben ein schmaler Wandschrank aus Holz und der Stuhl, auf dem Vartan vorhin gesessen hatte. Schließlich gab es noch einen kleinen gelben Metalltisch direkt neben seinem Bett.
Wie sollte man in so einer Umgebung gesund werden, wenn man wirklich psychisch krank war, fragte Sperling sich. Sein Durst meldete sich wieder, ihm war, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken, und Hunger hatte er auch. Er fühlte sich elend und ausgemergelt, aber wenigstens sein Denken gewann die gewohnte Klarheit zurück.
Es klopfte kurz an der Tür, und ein blondes Geschöpf in einem zu engen weißen Kittel, das so gar nicht in dieses triste Umfeld passen wollte, betrat den Raum. »Guten Abend. Ich bin Schwester Hilde und bringe Ihnen das Abendessen.«
Sie hatte jedoch nichts bei sich außer ihren beiden ausladenden Brüsten. Sperling war irritiert.
»Was darf es denn heute für Sie sein? Es gibt Krautfleisch oder gefüllte Paprika.«
Die Normalität ihrer Frage traf Sperling unvorbereitet. Er starrte sie wortlos an, wurde dann seiner Hilflosigkeit gewahr. »Aber wie soll ich denn essen?«
»Ganz einfach, ich werde Sie füttern.«
Sie sagte das so, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für das Krautfleisch. »Und bitte etwas zu trinken.«
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