Ein Unterfangen, das indes misslingt. Und das, obwohl Soldat Maier Dauerfeuer schießt, obwohl ein Feuerstoß nach dem anderen zwischen den Hofwänden widerhallt. Sämtliche Fluchthelfer, auch Zobel, können sich retten, in letzter Sekunde und dank des Tunnels, durch den sie wieder in den Westen gelangen.
Sie haben überlebt, können ihr Glück kaum fassen.
Nicht so Egon Schultz, der nicht nur kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech gehabt hat. Von insgesamt 10 Kugeln getroffen, bricht er unweit der Hoftür zusammen.
Wobei der Großteil, nämlich acht, aus der Waffe seines Kameraden stammt.
Ein Umstand, über den nichts, nicht einmal die leiseste Andeutung, an die Öffentlichkeit dringen durfte. Dafür würden die Verantwortlichen, allen voran die Stasi, sorgen.
RIAS-Reportage über den Fluchttunnel │05. 10. 1964
RIAS: Wie haben sich die letzten … Minuten abgespielt, die ja die entscheidenden sind?
Fluchthelfer: Es ist gut gelaufen, bis eben am fraglichen Abend – in der fraglichen Nacht – als Flüchtlinge getarnt zwei Männer erschienen, die vorgaben, noch einen anderen Mann holen zu wollen oder holen zu müssen. Wir waren aber nicht sicher, ob es nun Flüchtlinge waren oder keine Flüchtlinge. Wir hatten eben das Ultimatum gestellt, innerhalb von fünf Minuten zurückzukommen mit diesen neuen Flüchtlingen. Nach fünf Minuten kamen diese Männer mit dem dritten angekündigten Mann zurück. Diese drei Leute traten dann in den Hof und forderten uns mit entsicherter Maschinenpistole auf mitzukommen. In der darauf folgenden Schrecksekunde blieben wir natürlich starr stehen, dann rannten wir über den Hof. Die Vopos eröffneten sofort – ohne jede Warnung – und ohne jeglichen Aufruf das Feuer. Ich schätze, dass etwa 100, 150 oder – ich weiß nicht, wie viel – Schüsse auf uns abgegeben worden sind in einem Hof, der nicht größer ist als vielleicht sechs Meter auf drei Meter.
RIAS: Das war aber auch der Schlussstrich unter die ganze Aktion. Wahrscheinlich hätten Sie noch weitermachen können, nicht?
Fluchthelfer: Wir hätten noch weitermachen können, wir hätten es zumindest versucht, aber das war, wie gesagt, der Schlussstrich, und wir mussten daraufhin natürlich sofort die ganze Aktion abblasen.
(Quelle: www.chronik-der-mauer.de)
›Der Unteroffizier war von Zobels Kugel im Oberkörper getroffen und an der Lunge verletzt worden. Tödlich aber waren die Kugeln von Volker M., die den verwundeten Egon Schultz trafen, als er sich gerade wieder aufrichtete.‹
(DIE WELT, 30. 11. 2011)
*
›Am 5. Oktober 1964, gegen 0.15 Uhr, wurde Unteroffizier Egon Schultz bei der Ausübung seines Dienstes an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zum NATO-Stützpunkt Westberlin von Westberliner Agenten durch gezielte Schüsse meuchlings ermordet. Die Mörder drangen durch einen von Westberlin vorgetriebenen Agententunnel, der mit Billigung und aktiver Unterstützung der Westberliner Polizei angelegt wurde, im Abschnitt Strelitzer Straße in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ein, um im Auftrag Westberliner Spionageorganisationen Personen illegal, unter Verletzung der Staatsgrenze zu schleusen.‹
(Neues Deutschland, 6. 10. 1964)
IN DIESEM HAUSFLUR
WURDE AM 5. OKTOBER 1963
UNTEROFFIZIER
EGON SCHULTZ
GEBOREN AM 4. JANUAR 1943
BEI DER AUSÜBUNG
SEINES DIENSTES ZUM SCHUTZ
DER STAATSGRENZE DER
DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN
REPUBLIK
DURCH WESTBERLINER AGENTEN
MEUCHLINGS ERMORDET
*
Im Hof dieses Hauses endete ein von
West-Berlin aus gegrabener 145 Meter langer Tunnel,
durch den 57 Männern, Frauen und Kindern
in den Nächten des 3. und 4. Oktober 1964
die Flucht in den Westen gelang. Nach Verrat
der Fluchtaktion an das Ministerium für
Staatssicherheit der DDR kam es auf dem Hof
zu einem Schusswechsel zwischen Grenzsoldaten und Fluchthelfern. Dabei kam der
Unteroffizier der Grenztruppen der
Nationalen Volksarmee
*
Egon Schultz
*4. Januar 1943 in Groß-Jestin (Kreis Kolberg)
am 5. Oktober ums Leben. Egon Schultz
wurde in der DDR als Held idealisiert, die
Fluchthelfer galten als Agenten und Mörder.
Erst nach dem Fall der Mauer stellte sich heraus,
dass die tödlichen Schüsse aus der Waffe
eines Kameraden abgegeben wurden. Dieser
Sachverhalt war den DDR-Verantwortlichen
von Anfang an bekannt.
(Gedenktafeln am Haus Strelitzer Straße 55 in Berlin-Mitte)
(Berlin, Freitag, 9. Oktober 1964)
Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität in der Hannoverschen Straße 6 │07:30 h
»Der Obduktionsbefund?«, entrüstete sich die Endvierzigerin, bebrillt, kurz angebunden und mit einer Turmfrisur, bei der jedes Haar an der richtigen Stelle saß. »Da muss ich aber erst den Herrn Professor fragen!«
Ihr Gesprächspartner reagierte mit einem müden Lächeln. »Bei aller Freundschaft –«, antwortete er in dem für ihn typischen, teils spöttischen, zuweilen aber auch harschen Ton, wobei er das letzte der drei Wörter besonders betonte, »das wird, denke ich, nicht nötig sein.«
Die Sekretärin, die dem Klischee der altjüngerferlichen Vorzimmerdame perfekt entsprach, gab sich unbeeindruckt. »Was hier nötig ist und was nicht, junger Mann, entscheide immer noch ich.«
»Besten Dank für den jungen Mann«, antwortete der unverhoffte Besucher, zog ein silbernes Etui aus der Innentasche seines Sakkos, an dessen Revers das Parteiabzeichen der SED steckte, und fand offenbar nichts dabei, eine Zigarette Marke Herzegowina Flor anzuzünden. »Damit Sie Bescheid wissen: Ein Anruf von mir, und Sie kriegen den Wind von vorn. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich entscheiden, was mir weniger behagt: Ärger mit meinem Chef oder …«
»Oder?«, trotzte die Sekretärin, die außer dem Institutsleiter keine anderen Götter neben sich duldete. »Wollen Sie mir etwa drohen?«
Czerny antwortete mit einem gequälten Schnauben. »Ich fürchte, Sie verkennen die Situation, junge Dame«, antwortete der 43-jährige Major, sog an seinem Glimmstängel und blies seinem Gegenüber, das ihn mit verkniffener Miene beäugte, den Rauch ins Gesicht. »Wenn hier jemand am längeren Hebel sitzt, dann bin ich es. So viel Erfahrung, will heißen: Kenntnis der Gepflogenheiten in unserem Arbeiter- und Bauernstaat, müssten Sie eigentlich haben. Ergo: Sie werden mir jetzt den Befund in Sachen Egon Schultz, Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee, aushändigen. Und zwar umgehend. Ich hoffe, das war deutlich genug.« Die Zigarette in der Linken, griff Gerd Czerny, von Geburt Deutscher, dank eines russischen Stiefvaters jedoch auch Sowjetbürger, nach seinem Dienstausweis, der die Aufschrift ›Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik – Ministerium für Staatssicherheit‹ trug. »Noch Fragen?«
»So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist die Sache nicht.«
»Doch, ist sie.« Ohne sich um seine Gesprächspartnerin zu kümmern, durchmaß der hoch gewachsene MfS-Major das Büro, nahm einen Aschenbecher aus dem Regal und drückte die Zigarette aus. Danach wandte er sich wieder der Sektionssekretärin zu. »Hier, junge Dame – das Aktenzeichen. Damit es schneller geht.«
Aus dem Konzept gebracht, wanderte der Blick der Endvierzigerin zwischen ihrem Besucher und dem Zettel, den er auf den Schreibtisch fallen ließ, hin und her. Natürlich wusste sie, wie der Hase lief, aber das war es nicht, was sie irritierte. Es war etwas anderes, hatte mit dem Mann zu tun, der vor fünf Minuten ohne Voranmeldung aufgetaucht war.
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