Uwe Habenicht
Freestyle Religion
Uwe Habenicht
Freestyle Religion
Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert
echter
Den Freundinnen und Freunden in Deutschland, Italien, der Schweiz und anderswo
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2020
© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de(Foto: Shutterstock)
Gestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05494-6
978-3-429-05095-5 (PDF)
978-3-429-06487-7 (ePub)
Inhalt
Konturen des Neuen
I. Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart
1. Was kommt, ist schon da
2. „Freestyle Religion“ und „religious Freestyle“
3. Vom Zerbröseln institutionalisierter Religion
3.1 Individualisierung eins und zwei
3.2 Kosmopolitische Konstellation
3.3 Kulturalisierung
3.4 Entdogmatisierung
3.5 Enttraditionalisierung
4. Die Kirchen auf der Suche nach einer neuen Rolle
5. Sehnsucht und Notwendigkeit – „der eigene Gott“
6. „Urban mystix“
7. Von den Versuchungen der Spiritualität
II. Wunderbares Wirken über mich hinaus – Religion und Spiritualität
1. Tragfähig und gelungen spirituell sein – was braucht gute Spiritualität?
1.1 Trägt spirituell sein der Realität Rechnung?
1.2 Wird spirituell sein dem Einzelnen gerecht?
1.3 Entspricht diese Art, spirituell zu sein dem Transzendenten?
2. Was ist Religion?
3. Die drei Dimensionen der Religion
4. Das dritte Paradies als Modell
5. „Eyes open – eyes closed“
5.1 Die Augen schließen: Das Mystisch-Kontemplative
5.2 Mit offenen Augen agieren: Das weltzugewandte Handeln und Gestalten
5.3 Mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge die Gegenwart Gottes feiern – Das Liturgisch-Kultische
6. Wo das Dritte Paradies entsteht – Die Gemeinschaft Sant’Egidio
7. Die politische Mystik der Psalmen
III. Freestyle Religion für das 21. Jahrhundert
1. Nicht-doktrinär spirituell
2. Sinn und Sinnlichkeit – Leibbezogene Präsenzkultur
3. Offenporige Autonomie
4. Freestyle Religion – eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt
5. Teil der Kultur und Gegenkultur zugleich – die neue Rolle der Kirche im Zeitalter von Freestyle Religion
5.1 Das Eigene zum Glänzen bringen – Workshop-Kirche
5.2 Ort des Verdrängten und Misslungenen: gegenkulturelle Strömung
IV. Wie beginnen? – Hinweise zur spirituellen Praxis
1. Im Vorhof des Heiligen
1.1 Achtsam in der Natur
1.2 Körperübungen und Stressabbau – MBSR
1.3 Die eigene Stimme finden: grünes Schreiben und Speedwriting
2. Das Meditativ-Kontemplative gestalten
3. Das Liturgisch-Kultische gestalten
4. Gestaltendes Wirken
5. Straßenexerzitien und Alltagsexerzitien – vom Abschreiten aller drei Kreise
Anmerkungen
Literatur
Und dies ist der Grund, warum unsere Theologie gewiss ist: Weil sie uns von uns selbst wegreißt und uns außerhalb von uns versetzt, damit wir uns nicht auf unsere Kräfte, unser Wissen, unseren Sinn, unsere Werke und unsere Person stützen, sondern uns auf das verlassen, was außerhalb von uns ist, nämlich auf die Verheißung und auf die Wahrheit Gottes, die uns nicht täuschen.
Martin Luther (WA 40/I 589, 25–28; Übersetzung U. H.)
Konturen des Neuen
Oft ist der Nebel vor dem Fenster meines Arbeitszimmers so dicht, dass der Blick nach draußen nichts als eine weiße Wand zeigt. Wenn die Nebelschwaden allerdings in Bewegung geraten, lassen sie für kurze Augenblicke Umrisse von Bäumen, Häusern und Hügeln sichtbar werden. Manches lässt sich mehr erahnen als sehen. Der Stall auf dem Hügel gegenüber taucht kurz auf, dann ist er wieder verschwunden.
Bei solchen Wetterlagen blicke ich oft sehr lange hinaus. Lasse meinen Blick schweifen und halte Ausschau, ob sich die vertraute Umgebung mit ihren Umrissen und Konturen zeigt.
In den letzten zwei Jahren ist mir der Blick aus dem Fenster zum Inbegriff dessen geworden, was mir auch in meinem Nachdenken wichtig geworden ist.
Wer einmal angefangen hat, über Religion und Spiritualität nachzudenken, wird so schnell damit nicht aufhören können, hinzuschauen und zu warten, bis sich Konturen abzeichnen. Ermutigt durch den Wüstenvater Pior, von dem erzählt wurde, dass er jeden Tag einen Anfang machte, möchte ich nach meiner minimalistischen Spiritualität („Leben mit leichtem Gepäck“), die das Abwerfen von unnötigem Ballast ins Zentrum stellte, nun den Versuch unternehmen, das Ganze und Grundlegende christlicher Spiritualität in den Blick zu nehmen. Vor unseren Augen entstehen gerade neue Konturen des Religiösen, also freie Formen von Religion (Freestyle Religion) bzw. neue Formen des Umgangs mit Elementen traditioneller Religion (religious Freestyle), die diese grundlegend verändern. Diese Entwicklung wirft viele Fragen auf: Entsteht dadurch nicht eine religiöse Beliebigkeit, die oberflächlich, egoistisch, gemeinschaftsfeindlich, unkooperativ und politisch desinteressiert ist? Oder stecken diese neuen Formen spätmoderner Religiosität voller überraschender Möglichkeiten, die lange schon in unserem Glauben angelegt waren und erst jetzt zu Tage treten? Und, so möchte ich weiter fragen, ist es möglich, tragfähige Religiosität von oberflächlichen Scheinformen zu unterscheiden? Und anhand welcher Kriterien könnte eine solche Unterscheidung gelingen? Wer hat heute überhaupt noch das Recht und die Autorität, „echte“ und „richtige“ Religion von „unechter“ und „falscher“ zu unterscheiden?
Im Begriff „Freestyle Religion“ schlummert bereits ein verborgener Wunschtraum, der wohl allem religiösen Streben innewohnt: der Wunsch, aus dem ermüdenden Selbstgespräch mit uns selbst herausgerissen zu werden. Religion, wie immer wir diese verstehen, ist immer schon mit dem Wunsch, dass wir über uns hinausgelangen, unauflösbar verbunden.
So sucht Freestyle Religion den Punkt, an dem wunderbares Wirken erlebbar wird: hinausgeführt zu werden über die eigenen beschränkten Möglichkeiten und hineinzuspringen in die Weite des Göttlichen. Freestyle Religion erhofft wunderbares Wirken auch noch in einer anderen Hinsicht, nämlich selbst wirksam und aktiv zu werden, über die eigenen Interessen hinausgeführt zu werden und kooperativ mit anderen Wunderbares und Erstaunliches entstehen zu lassen. Freestyle Religion, so lässt sich das Folgende vielleicht in der kürzestmöglichen Form umreißen, sucht nach dem wunderbaren Wirken, das mich über mich hinausführt – zu anderen und zum Transzendenten.
Weil sich mein Nachdenken stets im Dialog entfaltet, im tagtäglichen mit meiner Familie und darüber hinaus mit meinen Freundinnen und Freunden in Deutschland, Italien, der Schweiz und wo immer sie gerade stecken, möchte ich ihnen dieses Buch widmen. Ihnen allen verdanke ich vielfältige Impulse und Fragestellungen, ohne die „Freestyle Religion“ undenkbar gewesen wäre.
Rehetobel/St. Gallen im Februar 2020
I.
Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart
1. Was kommt, ist schon da
Was ich in meinem Alltag als Pfarrer erlebe, ist kein großes, alles erschütterndes Erdbeben, sondern Schlimmeres als ein Erdbeben. Die alten Kirchenmauern, die jahrhundertelang das, was wir Religion nennen, umschlossen, beschützt und bewahrt haben, werden nicht von einem spürbaren heftigen Erdstoß in Schutt und Asche gelegt. Was sich hinter unserem Rücken, also irgendwie spürbar, aber eben nur schwer fassbar, vollzieht, ist ein inneres Zerbröseln und Bröckeln des alten Gefüges, als würden sich die Steine, die lange die Kirchenmauern getragen haben, von innen zersetzen, verfaulen wie Obst, das überreif ist und seine Zeit gehabt hat. Das Alte trägt nicht mehr, verliert an Plausibilität und Evidenz. Auf einmal verlieren die alten Überzeugungen ihre Kraft, die Netze lösen sich auf. Neue Lebensrhythmen, andere Gewohnheiten, veränderte Perspektiven rücken traditionelle und ererbte Kirchlichkeit in ein blasses, wenig anziehendes Licht. Religion und Glaube sind den Medien jenseits von Pädophilie und Kirchenaustrittsstatistiken lange schon keine Schlagzeile mehr wert, denn das kirchliche Siechtum ist wenig interessant. Einerseits.
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