Uwe Habenicht
Draußen abtauchen
Uwe Habenicht
Freestyle Religion in der Natur
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2022
© 2022 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de(Foto: Viesturs Jugs/Shutterstock)
Gestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05742-8
978-3-429-05211-9 (PDF)
978-3-429-06567-6 (ePub)
Siehe, die Strahlen der Sonne sind dir so nahe, dass sie dich so in die Augen oder in die Haut stechen, dass du es fühlst. Aber doch vermagst du’s nicht, dass du sie ergreifst und in ein Kästchen legst, wenn du auch ewig danach greifst … So auch Christus, ob er auch überall da ist, lässt er sich nicht so greifen und fassen …
Warum das? Darum, dass es etwas anderes ist, wenn Gott da ist, und wenn er dir da ist. Dann aber ist er dir da, wenn er sein Wort dazu tut und bindet sich damit an und spricht: Hier sollst du mich finden. Wenn du nun das Wort hast, so kannst du ihn mit Gewissheit greifen und haben und sagen: Hier hab’ ich dich, wie du gesagt hast.
Martin Luther (WA 23, 150, 5–17)
Im Hintergrund meines Bewusstseins schwebte die Erkenntnis, dass Erleuchtung kein mentales oder verbales Ereignis irgendeiner Art sein könnte, sondern ein rein physisches Empfinden. Ich fühlte eine herrliche Schwerelosigkeit …
(Charles V. W. Books, Sensory Awareness, 209; Übersetzung U. H.)
Glaube einem Erfahrenen: Du wirst einiges mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Holz und Steine werden dich lehren, was du bei den Lehrern nicht hören kannst.
(Bernhard von Clairvaux, Ep. 106)
Vorweg Vorweg Dieses Buch über Religion und Natur wurde leider nicht in einer abgelegenen Berghütte bei Kerzenschein geschrieben. Es entstand nicht weitab von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um eine angemessene Klimapolitik, den politischen Krisen, die weltweite Migrationsbewegungen auslösen, und dem kirchlichen Relevanzbröckeln in der Corona-Zeit. Ganz im Gegenteil. Obwohl dieses Buch sich dem scheinbar zeitlosen Thema Natur zuwendet, zielt es – und das werden die folgenden Seiten hoffentlich zeigen – ins Zentrum der Überlebensfrage nach unserem Verhältnis zur Natur, und es zielt zugleich ins Zentrum von Theologie und Kirche, die sich allzu lange mit ihrer vermeintlichen Lebensdeutungskompetenz von Natur- und Leiberfahrungen fernhielten. „Theologie ist mehr und anderes als gedachtes und gedeutetes Leben.“ 1 Nicht mehr, aber auch nicht weniger, soll dieses Buch zeigen. Lässt sich Gottes Gegenwart in der Natur erfahren? Und was folgt daraus? Das ist die zentrale Frage, um die es im Folgenden gehen wird. Unser festgefügtes Welt-, Selbst- und Gottesverständnis könnten dabei ins Wanken geraten. Denn wenn Gott (in der Natur) erscheint, kommen wir nicht umhin, uns auf den Sog, den Riss und den Bruch einzulassen, den Gottes Gegenwart erzeugt. Mit dem Abschluss dieses Buches geht ein langgehegter Wunsch in Erfüllung und ein langer Weg zu Ende. Sachlich führe ich mein Nachdenken über die „Konturen des Neuen“, also über zeitgemäße Spiritualität, weiter. Dabei knüpfe ich an das Ballastabwerfen im „Leben mit leichtem Gepäck“ und an die Grundlegung für eine „Freestyle Religion“ an, um der Erfahrung der Gegenwart Gottes in der Natur näher zu kommen In klaren langen Mondnächten, in denen ich an diesem Buch schrieb, lag oft auf den Appenzeller Hügeln vor meinem Fenster und auf den in der Ferne sichtbaren Dächern St. Gallens ein mildes Licht. Ich hoffe, dass etwas von diesem Licht auch zwischen den Zeilen dieses Buches hindurchscheint und darin die alles gründende Gegenwart unseres Gottes spürbar wird – ohne Worte und ohne Sprache mit unhörbarer Stimme. Gewidmet ist dieses Buch den Kolleginnen und Kollegen in St. Gallen, mit denen ich in den vergangenen Jahren so unglaublich abenteuerlustig die „Konturen des Neuen“ vermessen durfte. St. Gallen/Rehetobel im Frühjahr 2022 Uwe Habenicht
Intro Intro 1.Abtauchen unter der linde am feldrand warte ich hoffnungsvoll mit leeren händen da löst sich vom ast ein blatt schwebt mir in denschoß und ich t a u c h e hinein Wann habe ich das zum letzten Mal gemacht: in ein Buch abzutauchen und selbstvergessen bei mir zu sein in einer anderen Geschichte? Und wann versank ich zum letzten Mal im Sternenhimmel, in einer Blumenwiese, im Rauschen eines Baches? Ist die Natur ein Buch, in dessen Seiten man einfach abtauchen kann? Welche Geschichte lesen wir darin? Ist es die Geschichte der Nähe Gottes? Praxis: Mit den Sinnen eintauchen Einen Baum suchen und darunter sitzen mit geöffneten leeren Händen. Was fällt in die Sinne? Der Stille mit all ihren Unterbrechungen zuhören und dazu die Augen schließen. Den Luftzug um die leeren Hände bemerken – ebenfalls mit geschlossenen Augen. Die Augen öffnen: mit weichem Blick in die Ferne schauen. Dann im Stehen etwas Duftendes oder Riechendes aus der nahen Umgebung in die Hände nehmen, zerreiben und hineinatmen. Den Übergang von einem Sinn zum nächsten nach eigenem Zeitrhythmus gestalten.
1.Abtauchen Intro 1.Abtauchen unter der linde am feldrand warte ich hoffnungsvoll mit leeren händen da löst sich vom ast ein blatt schwebt mir in denschoß und ich t a u c h e hinein Wann habe ich das zum letzten Mal gemacht: in ein Buch abzutauchen und selbstvergessen bei mir zu sein in einer anderen Geschichte? Und wann versank ich zum letzten Mal im Sternenhimmel, in einer Blumenwiese, im Rauschen eines Baches? Ist die Natur ein Buch, in dessen Seiten man einfach abtauchen kann? Welche Geschichte lesen wir darin? Ist es die Geschichte der Nähe Gottes? Praxis: Mit den Sinnen eintauchen Einen Baum suchen und darunter sitzen mit geöffneten leeren Händen. Was fällt in die Sinne? Der Stille mit all ihren Unterbrechungen zuhören und dazu die Augen schließen. Den Luftzug um die leeren Hände bemerken – ebenfalls mit geschlossenen Augen. Die Augen öffnen: mit weichem Blick in die Ferne schauen. Dann im Stehen etwas Duftendes oder Riechendes aus der nahen Umgebung in die Hände nehmen, zerreiben und hineinatmen. Den Übergang von einem Sinn zum nächsten nach eigenem Zeitrhythmus gestalten.
2.Der Sog nach draußen 2.Der Sog nach draußen Es muss ein inneres Reißen, ein unsichtbarer Sog sein, der sie nach draußen zieht. Ich sehe sie laufen und spazieren, schwimmen und tauchen, klettern oder einfach nur auf einer Bank am Wegesrand sitzen. Und oft bin ich einer von ihnen. Wir alle, Männer und Frauen gleichermaßen, können nicht widerstehen. Es hält uns nicht in den Wohnschachteln und Häusern, nicht auf Stühlen und Sofas. Nicht einmal vor Fernseher und Computer. Nichts hält uns in häuslicher Enge, nach draußen drängen wir. Wir, die Grünsüchtigen. Ins Weite, ins Grüne, aufs Blaue hinaus wollen wir. Hinter uns lassen wollen wir den vollgestopften Alltag, die mühsam errichteten sozialen Gebilde und mit Geduld errichteten Gleichgewichte aus Distanz und Freundlichkeit, Nähe und Abgrenzung, die glattpolierten Karrieresprossen, den angehefteten Status. Raus wollen wir. Bloß weg und raus. Vor allem. Zuerst. Und dann abtauchen. Eintauchen ins Andere, ins Fremde, ins Große. Ins Jenseits des Gewöhnlichen. Eintauchen in eine andere Gegenwart, in eine Gegen-Gegenwart, in der uns vielleicht auch der / die / das Andere begegnet. Was genau das ist, dieses Andere, Fremde und Große, vielleicht sogar erhaben Göttliche, wissen wir nicht. Noch nicht. Können es noch nicht sagen, weil wir seine Sprache kaum mehr sprechen. Erahnen es die stillgestellten Körper mit ihren abgestumpften und verflachten Sinnen überhaupt noch? Fühlt der Kopf, dass das Denken allein zu wenig ist? Vorerst kennen wir nur dieses Reißen, diesen Sog ins grünsüchtige Abtauchen. Damit beginnen wir. Diesem Sog folgen wir.
Читать дальше