Es ist nicht nur ein stiller Exodus aus der Kirche, der sich seit den 1960er Jahren vollzieht. Es ist eben mehr als nur das allmähliche Abschmelzen einer Großinstitution. Es geht vielmehr um das innere Abreißen einer Verbindung zwischen den Menschen und der Kirche als Institution. Es ist wie ein inneres Abhandenkommen, das in den meisten Fällen die Kirchenmitgliedschaft sogar einschließt. Man gehört formell noch zur Kirche, aber man hört nicht mehr hin, fühlt sich bei jedem Kontakt eher fremd als heimisch und versteht die Sprache, die dort gesprochen wird, immer weniger. Wie bei einem alten Ehepaar, das zwar noch im gleichen Haushalt lebt, aber lange schon innerlich ausgezogen ist.
Auf dem Etikett, das diesen Prozess beschreibt, steht Entkirchlichung und Enttraditionalisierung. Was innerhalb der Kirchenmauern gilt, gilt lange schon nicht mehr außerhalb. Was im kirchlichen Inner-Circle Common Sense ist, stößt außerhalb nur noch auf Kopfschütteln: eine kleine Party an Karfreitag, warum nicht? Halloween zu feiern, ist doch cool, oder? Tischgebete sind peinlich, für die Kinder ohnehin und Gästen sowieso nicht zumutbar. Das Problem daran: Auch den Inner-Circle gibt es vielerorts schon nicht mehr. Die einzigen, die Halloween nicht feiern, sind die Pfarrerskinder, die nicht kommen durften.
Um unsere Gegenwart und die Rolle der Religion darin zu verstehen, müssen wir die Geschichte erzählen, die zu dieser Gegenwart geführt hat. Bis vor Kurzem wurde diese Geschichte unter dem Stichwort der „Säkularisierung“ erzählt. Ihre Kurzfassung besagt: In der ausdifferenzierten Moderne wird Religion überflüssig und verliert immer mehr an Bedeutung, bis sie schließlich gänzlich verschwindet. Betrachtet werden kann sie dann nur noch in den Glasvitrinen der historischen Museen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass sich das Sterben des bereits totgesagten Patienten Religion nicht nur in die Länge zieht, dass dieser vielmehr erstaunlich vital erscheint. Die Geschichte der Säkularisierung, also das Vorrücken von Wissenschaft und Technik und die Inbesitznahme von einst religiösen Bereichen, muss offenbar differenzierter und anders erzählt werden 4– und zwar so, dass der Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion (Kirchen) einerseits und der breitgefächerte Boom des Spirituellen anderseits gleichermaßen in den Blick kommen. Ob dieser Prozess als Verlust beschrieben werden muss oder als Chance der Religion, endlich nichts anderes sein zu müssen als Religion, bleibt dabei zunächst offen: „Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung gegangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung. Die Gesetze des Himmels und der Erde mit den Mitteln der Religion zu ergründen und zu verkünden: Das geht nicht! … Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig, nur noch für Spiritualität und Religiosität.“ 5
Wie immer dieser Prozess bewertet wird – in jedem Fall kommt es zu erheblichen Verschiebungen und Verlagerungen. Und diese erdbebenartigen Verschiebungen sind es, die für die Großkirchen spürbar und immer deutlicher sichtbar werden.
Schauen wir diesen Prozess etwas genauer an, lassen sich mindestens fünf Aspekte ausmachen, die zu dieser Situation geführt haben und sie heute noch prägen.
3.1 Individualisierung eins und zwei
Zur Eigenart geschichtlicher Prozesse gehört es, dass in ihnen verborgene Spannungen und bisher zusammengehaltene Gegensätze erst im Laufe der Zeit deutlich hervortreten und möglicherweise auseinanderbrechen. Das spannungsvolle Beieinander von Religion und Individualität gehört zu diesen Phänomenen. Das Christentum hat sich, anders als das Judentum, zu dem es anfangs noch gehörte, immer an den Einzelnen gewandt. Ohne Ansehen von Herkunft, Sprache, religiöser Zugehörigkeit und Geschlecht galt die christliche Botschaft den Einzelnen, um aus diesen „Herausgerufenen“ die „ecclesia“, die Kirche, zu bilden. So war und ist noch immer die am Einzelnen vollzogene Taufe, die auf der individuellen Glaubensentscheidung (etwa bei der Konfirmation) beruht, zentrales Sakrament des christlichen Glaubens. In diesem Sinne ist christlicher Glaube Quelle von Individualisierung. Soziale und kulturelle Bindungen lässt der Einzelne hinter sich, um seiner individuellen Berufung zu folgen. Zugleich wird diese individuelle Entscheidung durch die Eingliederung in den Glauben der Glaubensgemeinschaft eindeutig begrenzt. Wer sich taufen lässt, bindet sich an den geteilten Glauben der anderen Getauften. So ist christliche Religion sowohl Quelle von Individualisierung als auch deren Gegenteil, nämlich die Beschränkung von Individualität. Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Stadium Individualisierung eins: „Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion.“ 6
Martin Luthers reformatorisches Denken radikalisierte diese individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der katholischen Amtskirche nachhaltig. „Die ‚Erfindung‘ des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das ‚Undenkbare‘, das ‚Ungeheuerliche‘, die ‚Häresie‘ gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem ‚einen‘ und dem ‚eigenen Gott‘ die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen. “ 7
Trotz der Loslösung des eigenen Gottes von der Amtskirche bleibt dieser jedoch an die christliche Überlieferung, sprich Bibel, gebunden: „Der eigene Gott Luthers ist also keineswegs der ‚Bastel-Gott‘ des 21. Jahrhunderts, sondern der wörtliche Bibelgott, der sich in der Schrift offenbarende, eigne und einzige Gott. So paradox es klingen mag, der ‚eigene Gott‘ Luthers fällt zusammen mit dem einen Gott der Bibel. “ 8
Auch wenn der Soziologe Beck hier das Schriftverständnis Luthers reichlich stark verkürzt und nicht sieht, wie gerade bei Luther das Ankommen Gottes beim Menschen ein lebendiges Geschehen ist, das über den bloßen Buchstaben der Bibel weit hinausgeht, 9bleibt festzuhalten: Die christliche Freiheit im Verständnis Luthers bewegt sich innerhalb der christlichen Überlieferung, vor allem in ihrem Bezug auf die Heilige Schrift.
Wie sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen sollte, war damit aber noch nicht der letzte Schritt der Inanspruchnahme von Freiheit getan. Es folgte ein zweiter Individualisierungsschub: „Individualisierung Zwei“. In diesem zweiten Schritt nehmen die Einzelnen nicht nur die Freiheit in Anspruch, innerhalb der christlichen Religion frei zu wählen, sondern auch wählen zu können, frei von Religion zu sein. Damit wird Religion eine Option, die man ergreifen kann, aber nicht muss. Zur einzigen Autorität wird damit die individuelle Autonomie, vor der bestehen muss, was Gültigkeit haben soll.
3.2 Kosmopolitische Konstellation
Religiosität wird im 21. Jahrhundert – anders als noch vor 100 Jahren – unausweichlich in einer „kosmopolitischen Konstellation“ gelebt: immer ist man von Gläubigen anderer Religionen, von Nicht-Glaubenden und Anders-Religiösen umgeben. Religiöser Pluralismus wird somit zur Alltagserfahrung, die bis in die innersten Poren des Einzelnen eindringt. Denn allein die Präsenz der Anders-Glaubenden führt vor Augen, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, anders und anderes zu glauben und auf andere Weise religiös zu sein. Die selbstgewählte religiöse Option wird damit ein Stück fragiler, weil es offensichtlich auch Alternativen zur eigenen Religiosität gäbe. Wie wir später noch sehen werden, kann Kosmopolitisierung positiv durchaus als Bereicherung der eigenen Religiosität erlebt werden und eine Kultur der Anerkennung anderer mit sich bringen. Die kosmopolitische Konstellation wirft in jedem Fall die Frage auf, wie mit dem Fremden und der eigenen Unsicherheit im Umgang mit ihm umzugehen ist. Längst haben sich religiöse Kulturen aus ihren Ursprungsländern gelöst und sind vor der eigenen Haustür, ja mehr noch: im eigenen Herzen angekommen.
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