»Herr im Himmel, bitte hilf …«
Peter sandte ein Stoßgebet zum Himmel und versuchte bewusst jeden Eindruck von Unruhe zu vermeiden, als er aus dem Haus trat und langsam auf die Reiter zuging, die soeben herbeigetrabt kamen. Erst ganz nah vor ihm brachten sie ihre Pferde zum Stehen.
»Seid Ihr der Besitzer dieses Hofes?«
Einer der beiden Bewaffneten hatte die Frage gestellt, sie klang herablassend, aber nicht unfreundlich. Der andere sah ihn neugierig an, wie Peter aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Der Blick auf den Mönch blieb ihm vorerst verwehrt, da er sich unmittelbar hinter den beiden befand.
»Ich bewirtschafte ihn. Er gehört zum Besitz des Klosters zu Garsten.«
»Euer Name?«
»Peter Seimer, Herr.«
»Peter Seimer, Ihr werdet der Kirche sicherlich gern einen Dienst erweisen wollen, nicht wahr?«
Dem Bauern schnürte es den Hals zu. Sie kommen zur Sache, dachte er, doch außer einem Nicken war er zu keiner Antwort fähig.
Der Fragesteller ließ seinen Rappen etwas zur Seite tänzeln und gab so den Blick auf den dritten Reiter frei, dessen Gewandung ihn unzweifelhaft als Cölestiner auswies.
»Ihr seht hier unseren hochwürdigsten Herrn Petrus Zwicker vor Euch, Inquisitor der ketzerischen Verderbtheit, ausgesandt von seiner Eminenz, Georg von Hohenlohe, dem Bischof zu Passau, um den Umtrieben des Teufels, der hier in der Gegend viele Anhänger besitzt, ein Ende zu bereiten«, stellte der Waffenknecht seinen Herrn förmlich vor.
Peter Seimer erschrak bis in die Grundfesten seiner Seele. Der Inquisitor! Nicht sein Abgesandter, nicht nur einer seiner geistlichen Handlanger war gekommen, um ihn zu holen; o nein, er stand dem Leitwolf höchstpersönlich gegenüber.
Der Bauer sah zu ihm auf – und verspürte plötzlich das Gefühl, als ob ein Stück Eis über seinen Rücken strich. Er musste zugeben, dass der hochgewachsene Cölestiner eine respekteinflößende Erscheinung war. Der kurz gestutzte schwarze Bart und der sorgfältig gepflegte Haarkranz gleicher Farbe, der die Tonsur rahmte, sowie die römisch geformten Züge gaben dem Gesicht etwas Vornehmes, Unnahbares. So sahen manche der geschnitzten und gemalten Heiligenfiguren aus, die vielerorts die Kirchen schmückten – wären da nicht die kühn gebogene Nase und der stechende Blick der Augen gewesen, unnatürlich groß und grün und wie dazu geschaffen, sich bis auf den Grund der Seele hinabzubohren.
Ein Geier, schoss es Peter durch den Sinn. Trotz der bedrohlichen Situation rief der Anblick des Inquisitors den Künstler in ihm wach. Hätte er den Auftrag bekommen, einen Raubvogel mit menschlichem Antlitz zu schnitzen – genau so hätte er aussehen müssen.
Tief verbeugte er sich. »Seid herzlich willkommen auf unserem Hof, hochehrwürdiger Herr. Ich stehe Euch selbstverständlich gern zu Diensten. Was kann ich für Euch tun?«, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen und wunderte sich über die Festigkeit seiner Stimme. Sie ließ nicht im Entferntesten die Verzweiflung ahnen, die in seinem Innern wogte.
»Wir benötigen Eure Hilfe, Peter Seimer. Unser Wagen hat einen Achsbruch erlitten und blockiert den Weg. Der Rest meiner Eskorte befindet sich bei ihm, um ihn zu bewachen. Wir benötigen Werkzeug und paar geschickte Hände, um das Malheur zu richten. Das wird sicherlich einige Stunden in Anspruch nehmen. Bis dies geschehen ist, bitte ich angesichts des scheußlichen Wetters um Eure Gastfreundschaft. Vielleicht gibt es ja eine Kammer, in der ich die erzwungene Pause ein wenig zum Ausruhen nutzen kann; ich bin sehr müde«, ließ sich der Inquisitor mit tiefer, wohlklingender Stimme vernehmen.
Nur ein Achsbruch! Und er ist müde! Gott im Himmel, ich danke dir …
Peter merkte, wie sich die aufgestaute Angst durch ein zwanghaftes Lachen zu entladen drohte, und mühte sich, den gebührenden Ernst in seine Miene zu zwingen.
»Wenn’s weiter nichts ist, ehrwürdiger Vater. Mein Knecht Jos und ich stehen zu Eurer Verfügung. Und über das geeignete Werkzeug verfügen wir natürlich auch. Habt die Güte und betrachtet solange mein Haus als das Eure.«
Etwas mehr als drei Stunden später war Peter Seimer wieder zur Stelle. Der Wagen sei einsatzbereit und man könne weiterreisen, unterrichtete er den Inquisitor. Erfrischt durch einen ausgiebigen Schlaf und ein kräftiges Mahl, das ihm die Frau Seimers bereitet hatte, trat Petrus Zwicker in Begleitung Peters in den Hof hinaus. Der Hauptmann und ein weiterer Bewaffneter erwarteten ihn bereits mit den Pferden.
Er richtete einen wohlwollenden Blick auf den Bauern. »Habt nochmals herzlichen Dank. Ihr habt uns einen großen Dienst erwiesen. Der Herr wird es Euch vergelten, zumal Ihr ein frommes Glied der Kirche seid, wie ich an der schönen Muttergottes erkennen konnte, die in Eurer Stube steht. Ihr habt sie selbst geschnitzt, wie Euer Weib mir berichtete?«
Seimer nickte wortlos.
»Ihr seid ein Künstler, Peter Seimer. Und Ihr preist den Herrn mit Eurer Kunst, das ist löblich«, bemerkte der Mönch wohlgefällig.
Das Getäusche. Er ist tatsächlich darauf reingefallen.
Peter Seimer richtete ein inniges Dankgebet an den Herrn, der ihm geholfen hatte, sich unschuldig wie eine Taube und listig wie eine Schlange zu erweisen. Vor Jahren hatte er einmal davon gehört, wie einer seiner Glaubensgenossen, ein Bauer wie er selbst, die bevorstehende Inspektion seines Hauses durch einen der Inquisition nahestehenden Priester verhindert hatte. Ein Nachbar hatte ihn denunziert und behauptet, er verachte die Heiligen. Woraufhin sich der Mann schnurstracks eine holzgeschnitzte Muttergottes besorgt und sie in seiner Hütte aufgestellt hatte. Als der Priester erschien, wurde er von dem Denunzierten mit größter Freundlichkeit empfangen und im Angesicht der Heiligenfigur reich bewirtet. Der Priester – verunsichert durch den freundlichen Empfang und überrascht vom Anblick der Muttergottes – war fest davon überzeugt, einem übelwollenden Denunzianten aufgesessen zu sein, und entschuldigte sich wortreich bei dem Denunzierten, bevor er sich – gestärkt durch einen großen Humpen Wein – wieder auf den Rückweg machte. Dem Beispiel seines pfiffigen Glaubensbruders folgend, hatte auch Peter Seimer schon vor geraumer Zeit eine große Madonnenfigur mit dem Jesuskind im Arm für den Fall der Fälle geschnitzt. Heute nun war er eingetreten und das »Getäusche« – wie man innerhalb der Familie das Schnitzwerk nannte – hatte seinen Zweck erfüllt. Wie geplant, hatte der Inquisitor aus dem, was er sah, seine Schlüsse gezogen, ohne dass es eines einzigen Wortes seitens der Seimers bedurft hätte. So war er zwar überlistet, aber nicht belogen worden. Letzteres hatte ein Angehöriger der »Armen« tunlichst zu vermeiden – selbst im Angesicht des Todes. Natürlich würde die Figur nach der Abreise des Inquisitors gleich wieder in der Versenkung verschwinden, wo sie hoffentlich vergeblich darauf harrte, erneut eingesetzt zu werden. Die »Armen Christi« hielten nichts von Heiligenfiguren und schon gar nichts davon, dieselben anzurufen.
»Zu gütig, hochehrwürdiger Herr. Es war mir eine Ehre«, murmelte Peter, und meinte damit natürlich nicht das, was Petrus Zwicker meinte, das er meinte. Heilfroh, den Klauen des römischen Jägers unerkannt entronnen zu sein, jubelte sein Herz darüber, dass Gott diesen offenbar mit Blindheit oder besser gesagt mit Müdigkeit geschlagen hatte. Mit einer für sein Alter ungewöhnlichen Behändigkeit schwang sich der Cölestiner in den Sattel und ritt, gefolgt von seinen Adjutanten, ohne ein weiteres Wort davon.
Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, kam Falk erst um die fünfte Tagesstunde dazu, das Haus des Stadtrichters aufzusuchen, um sich das Schreiben aus Melk abzuholen. Gleich nach seiner Rückkehr war er ins Fondaco geeilt, um Christine über den Verlauf der morgendlichen Expedition zu unterrichten, hatte sie jedoch nicht angetroffen. Schon ziemlich früh sei sie ohne Angabe eines Grundes weggegangen, wollte jedoch spätestens zur Mittagszeit wieder zurück sein, war er von Irmingard in Kenntnis gesetzt worden. Falk hatte sich daraufhin kurz in die Gästekammer zurückgezogen, um ein wenig auszuruhen, war dann aber vor Erschöpfung eingeschlafen und verhältnismäßig spät erwacht.
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