Doch noch immer rührte sich nichts. Außer dem leisen, kaum wahrnehmbaren Rauschen, das das Nieseln des Regens verursachte, war alles still – unheimlich still.
Von Panhalm und Falk wechselten einen kurzen Blick. Dann sprangen beide, die Tür zur Gänze aufstoßend, mit gezückten Schwertern über die Schwelle. Das magere Licht des Morgens fiel durch die Tür und erhellte nur spärlich das Dunkel des Hütteninneren. Doch es genügte, um sie den fürchterlichen Anblick wahrnehmen zu lassen, der die unheimliche Stille erklärte.
An einem der Deckenbalken, die sich quer durch die Kate zogen, hing an einem Strick die Leiche eines Mannes, zu seinen Füßen lag ein umgestoßener Schemel. Das Haupt zur Seite geneigt, die Augen weit aufgerissen, streckte er den entsetzten Betrachtern die Zunge entgegen. Ein Windhauch fuhr in die Kate und ließ den Körper gespenstisch hin- und herpendeln.
»So er wirklich der Mörder ist, hat er sich nun selbst gerichtet«, murmelte von Panhalm nach dem ersten Schrecken. »Heinrich, eine Fackel, schnell! Und sag den anderen, sie sollen hereinkommen«, befahl er dem Büttel.
Kurz darauf traten die anderen drei Gerichtsknechte über die Schwelle, und der helle Schein der Fackel prägte das ganze Grauen in die frühmorgendliche Dämmerung. Jetzt erst bemerkten sie, dass das Gesicht der Zeitlers blau angelaufen war; die Zunge, die groß und dick aus dem Mund schwoll, hatte eine fast schwarze Farbe angenommen.
»Bodo und Siegbert, nehmt ihn herunter!«, befahl der Stadtrichter.
»Halt, wartet!«, widersprach Falk, was von Panhalm zu einem ärgerlichen Stirnrunzeln veranlasste.
»Verzeiht, Herr Stadtrichter, aber lasst mich zuerst noch etwas ausprobieren«, bat Falk.
Er hob den umgestoßenen Schemel auf, stellte ihn direkt unter den am Strick hängenden Leichnam und trat einen Schritt zurück.
Erstaunt beobachtete von Panhalm ihn.
»Fällt Euch etwas auf?«, wandte sich Falk an den Stadtrichter.
»Was sollte mir auffallen?«
»Seht Euch den Abstand zwischen den Füßen und dem Schemel an.«
»Den Abstand? Was ist damit?«
»Ganz einfach: Er ist ein wenig zu groß.«
»Ein wenig zu groß? Was meint Ihr mit: zu groß?«
»Er ist zu groß, als dass der Mann sich selbst getötet haben könnte. Er wurde getötet.«
»Ach, er wurde getötet. Ihr seid dabei gewesen, nicht wahr?«, bemerkte der Stadtrichter süffisant und verärgert zugleich.
Das darf nicht wahr sein, dachte Falk und erinnerte sich unwillkürlich an die Bemerkung des Ternbergers über die Unfähigkeit des Richters.
»Nun, überlegt doch mal, wenn Ihr Euch erhängen wolltet, wie würdet Ihr es anstellen?«
»Hört auf, in Rätseln zu sprechen, erklärt Euch gefälligst deutlicher«, polterte der Stadtrichter los.
»Würde ich es tun wollen, würde ich einen Strick nehmen, ihn an einer bestimmten Stelle und in einer bestimmten Höhe festknüpfen, und zwar so, dass, nachdem ich mir die Schlinge um den Hals gelegt habe, mein Körper genügend tief fallen kann, um sicher das Genick zu brechen; schließlich möchte ich nicht elendiglich ersticken«, fuhr Falk ungerührt fort. »Vorher allerdings müsste ich darauf achten, dass ich den Gegenstand, auf den ich mich stellen muss, sagen wir, einen Schemel, mit den Füßen problemlos erreichen und umstoßen kann. Könnt Ihr mir so weit folgen?«, dozierte Falk weiter und bemühte sich gar nicht erst, den arroganten Eindruck, den er damit erweckte, zu unterdrücken; zu groß war der Ärger, den er über die Einfältigkeit des Stadtrichters empfand. Der Mann mochte als Richter eine ganz passable Figur abgeben, als Ermittler war er ein Versager.
Den schien das Belehrende an Falks Argumentation jedoch nicht weiter zu stören.
»Ah, jetzt verstehe ich. Ihr meint, Schreyer hätte den Schemel gar nicht allein umstoßen können, er hing zu hoch, nicht wahr?«, bemerkte er.
»Richtig«, bestätigte Falk.
»Wenn er getötet wurde, wie hat sich aber dann der Täter davonstehlen können? Schließlich war die Tür verschlossen. Der Schlüssel steckte von innen, wie Ihr wisst. Als wir sie aufsprengten, fiel er herunter«, hielt der Stadtrichter dagegen und wies auf den Schlüssel, der in der Tat am Boden lag. »Das Fenster kommt ja wohl nicht infrage. Da kommt niemand durch. Habt Ihr auch dafür eine Erklärung?«, fügte er triumphierend hinzu.
Falk sagte zunächst nichts und sah sich erst einmal um. Dabei inspizierte er vor allem den Platz um die halb zertrümmerte Tür und schob sie, so gut es ging, zu. Dann aber, als sein Blick am Boden entlangglitt, ging er plötzlich in die Hocke – und schob mühelos die flache Hand in den Spalt, der zwischen der unteren Kante der Tür und dem Fußboden klaffte.
»Wie ich mir das erkläre? Ganz einfach: Der Täter griff sich den Schlüssel, verschloss damit die Tür von außen und schob ihn einfach durch diesen Spalt wieder nach innen«, entgegnete er lakonisch und erhob sich. »Ihr könnt ihn jetzt herunternehmen lassen«, fügte er hinzu und deutete auf den Leichnam.
Von Panhalm maß ihn mit einem Blick, als wollte er ihm jeden Augenblick an die Gurgel fahren. Dann drehte er sich ruckartig um. »Siegbert, Bodo, Heinrich, ihr habt es gehört. Also macht voran!«, fuhr er seine Büttel wütend an.
Mit säuerlichem Gesicht schnitten die Knechte den Leichnam vom Balken und legten ihn auf den festgestampften Lehmfußboden. Der Tote war steif wie ein Brett.
»Lange kann der Mann noch nicht dort hängen. Höchstens vier bis acht Stunden. Noch hält die Leichenstarre vor«, sagte der Stadtrichter. Wenigstens das hast du bemerkt, ging es Falk durch den Kopf.
Als sie gleich darauf neben der Leiche in die Hocke gingen, fanden sich weitere Zeichen, die nahelegten, dass Gundel Schreyer sich nicht selbst umgebracht haben konnte.
Falk deutete auf die Unterarme. »Seht Ihr diese blutunterlaufenen Striemen hier an den Handgelenken?«
»Natürlich, ich bin ja nicht blind. Sieht aus, als wäre der Mann gefesselt gewesen«, brummte der Stadtrichter finster. Offensichtlich ärgerte er sich noch immer über die Blöße, die er sich gegeben hatte.
Mit ein paar Handgriffen lockerte Falk den Strick, der fest um den Hals des Toten geschlungen war, und schob ihn ein wenig nach unten.
»Ah, das ist interessant. Seht Euch das an.«
Der verhältnismäßig dicke Strick hatte ein um den gesamten Hals verlaufendes, bläulich verfärbtes ringförmiges Mal hinterlassen. Doch es gab noch ein anderes Muster, das sich auf grausame Weise in die Haut geprägt hatte. Bedeutend schmaler, als der dicke Strick es vermochte, und so tief, dass rundum Blut ausgetreten war.
Diesmal kam dem Stadtrichter die Erleuchtung etwas schneller.
»Der Mann dürfte schon tot gewesen sein, als ihn der Täter an dem Balken aufknüpfte. Er hat ihn vorher mit einer Schnur erdrosselt, die ihm regelrecht ins Fleisch schnitt«, schlussfolgerte er.
Falk nickte. »Ja. Dafür, dass das Opfer qualvoll erstickte, sprechen auch die intensiv bläuliche Gesichtsfarbe und die hervorquellende Zunge. Wie Ihr seht, haben wir es bei dem Mörder mit einem sehr einfältigen Menschen zu tun.«
»Einfältig?«
»Ja. Er will uns glauben machen, dass der Zeitler selbst Hand an sich legte, und hat versucht, uns auf eine falsche Fährte zu locken. Allerdings ging er dabei äußerst stümperhaft zu Werk. Er muss schon sehr einfältig sein, wenn er glaubt, dass wir darauf hereinfallen.«
»So gesehen, habt Ihr recht«, bekräftigte der Stadtrichter geschmeichelt. »Einen scharfen Verstand kann er nicht gerade sein Eigen nennen.«
Das sagt der Richtige, spottete Falk in Gedanken.
»Was sollen wir nun tun, was schlagt Ihr vor?«, fragte er.
»Wir werden das Unterste zuoberst kehren«, sagte der Stadtrichter bestimmt und richtete sich ebenfalls auf. »Wo sich das Eine fand, findet sich vielleicht auch Weiteres. Ich würde gerne das Versteck inspizieren, das Eure Gattin entdeckt hat.«
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