Das »Rußgesicht«!
Kein Zweifel – er hatte das »Rußgesicht« gesehen!
Was zum Kuckuck hatte der Mann hier zu suchen?
Und warum zum Henker hatte er auf ihn geschossen?
Falks Augen tasteten suchend das Hütteninnere ab – und hefteten sich auf einen kleinen, länglichen Gegenstand fast unmittelbar zu seinen Füßen: ein winziger, gefiederter Bolzen. Er war irgendwo abgeprallt und quer durch die Hütte bis fast vor die Tür geschleudert worden.
Falk hob das Geschoss auf und betrachtete es. Es musste von einem sogenannten Kleinschnepper abgeschossen worden sein; einer etwas mehr als faustgroßen Armbrust, auch Balestrino genannt, die in den Händen eines geübten Schützen eine heimtückische, überaus gefährliche Waffe darstellte.
Falk sah auf. Sein Blick bohrte sich durch die groben Ritzen der Tür. Komm nur, du hinterhältiger Schuft, ich –
Ein nicht näher bestimmbares Geräusch verhinderte, dass er den Gedanken zu Ende dachte. Gleich darauf flog ein Gegenstand durchs Fenster, schlug auf dem Lehmfußboden auf – und verwandelte sich augenblicklich in eine sich rasch ausbreitende dunkle Wolke winziger stechender Biester, die, zu Hunderten herumstiebend, die Kate mit drohendem Summen erfüllten.
»Du Bastard!«, entfuhr es Falk. Offensichtlich hatte das Rußgesicht einen der Bienenkörbe hereingeschleudert, um ihn so zu zwingen, die Kate zu verlassen.
Falk versuchte, sich des wütenden Flugviehs zu erwehren, und wechselte rasch auf die andere Seite des Eingangs. Ihm blieb nur noch die Flucht nach vorn. Doch dazu bedurfte es einer geeigneten Deckung. Angestrengt spähte er durch die halb geöffnete Tür ins Freie – und erblickte die Regentonne, etwa fünfzehn Schritte vom Eingang entfernt. Wenige Sprünge mussten genügen, um dorthin zu gelangen. Er rannte los und hörte, wie ein weiterer Bolzen an seinem Gesicht vorüberzischte und raschelnd im Gebüsch einschlug. Der Schuss war aus Richtung des Schuppens gekommen, über eine Distanz von mindestens dreißig Fuß, was bedeutete, dass das »Rußgesicht« ein verdammt guter Schütze sein musste. Doch noch bevor der Mann einen neuen Bolzen auflegen konnte, hatte Falk die rettende Tonne erreicht und sich dahinter niedergeworfen. Darum bemüht, seinen fliegenden Atem unter Kontrolle zu bekommen, guckte er vorsichtig hinter dem Fass hervor und musterte das vor ihm liegende Gelände.
Er wog den Dolch in seiner Hand. Der Platz hinter der Tonne war gut gewählt. Wollte der schwarze Teufel ihn weiter attackieren, würde er sein Versteck beim Schuppen verlassen und herankommen müssen. Ungeschützt und bar jeder Deckungsmöglichkeit, würde er ein gutes Ziel für einen wohlgesetzten Dolchwurf abgeben. Was das sichere Schleudern der Waffe anging, machte Falk so schnell niemand etwas vor.
Dann aber geschah etwas, was ihn maßlos verblüffte. Hinter einem beim Schuppen aufgeschichteten Holzstoß schoss plötzlich ein dunkler Schatten hervor und rannte mit weit ausholenden Sprüngen in Richtung Fluss!
Das »Rußgesicht«. Er gab Fersengeld.
Noch fragte sich Falk, was den Schurken zur plötzlichen Aufgabe seines rätselhaften Vorhabens bewegt haben mochte, als er entferntes Gemurmel hörte. Er fuhr herum – und nahm aufatmend zur Kenntnis, wie mehrere Männer am Rand des Anwesens entlangritten. Gleich darauf bemerkte er einen zweirädrigen Karren, der von einem kräftigen Gaul gezogen wurde. Die Knechte des Stadtrichters waren gekommen, um den Leichnam Gundel Schreyers zu bergen. Offenbar hatte das Rußgesicht die Männer kommen sehen und daraufhin beschlossen, das Weite zu suchen.
Für einen kurzen Moment war Falk geneigt, dem Flüchtenden nachzusetzen, verzichtete jedoch darauf, als ihm klar wurde, dass er damit ein nicht abzuschätzendes Risiko einging. Im dichten Ufergebüsch versteckt, würde ihn der Mann, so er sich näherte, wie einen Hasen abschießen und sich dann, ein Stück weiter flussaufwärts, seelenruhig zurück in den Wald schlagen.
Absurd. Es ist alles völlig absurd.
Schlagartig wurde Falk das Unwirkliche der Situation bewusst. Ein dem Kerker entsprungener Waldensermeister, der sich das Gesicht mit Ruß schwärzte, angeblich eine Frau vergewaltigt hatte und über eine äußerst seltene, aber überaus tödliche Waffe verfügte, wollte ihm, Falk von Falkenstein – beauftragt, den Mord an einer Frau aufzuklären und gegenwärtig vom Regen durchnässt vor einer einsamen Hütte stehend, in welcher der Leichnam eines ermordeten Bienenzüchters lag – ans Leder.
Es war zum Totlachen. Oder zum Verzweifeln. Je nachdem, wie man die Sache betrachtete.
»Der Stadtrichter schickt uns, die Leiche zu holen, Herr. Außerdem sollen wir Euch ausrichten, dass ein Schreiben Euer harrt. Ein Bote aus Melk überbrachte es«, unterbrach einer der Knechte, die inzwischen herangekommen waren, das Grübeln Falks.
»So?« Er runzelte die Brauen. Das wurde ja immer besser. Ein an ihn gerichtetes Schreiben aus Melk. Ein schneller Reiter benötigte für die Strecke Melk – Steyr etwa einen Tag. Was gab es Wichtiges, das man ihm mitzuteilen hatte? So wichtig, dass der Bote offenbar die Nacht hindurch geritten war und schon in aller Herrgottsfrühe an die Pforte des stadtrichterlichen Hauses geklopft hatte, um das Schreiben loszuwerden? Vor wenigen Tagen erst war er von seiner Reise nach Melk zurückgekehrt, die er unternommen hatte, um dem dortigen Prior Bodo von Schachnitz einen Besuch abzustatten. Allerdings hatte dieser ihn nicht empfangen können, da er schwer krank darniederlag. Hing das Schreiben damit zusammen? Falks Erinnerungen wanderten viele Jahre zurück. Einen großen Teil seines Lebens hatte er in der Umgebung des Stiftes zu Melk zugebracht; Jahre, die ihn geprägt und sein Schicksal mitbestimmt hatten, bevor er vor drei Jahren Christine kennengelernt und mit ihr nach Salerno gezogen war.
Achselzuckend machte sich Falk auf den Weg zu seinem Rappen.
In einigen Stunden würde er mehr wissen.
Schon seit Stunden bewegte sich der Tross, dem acht Berittene und ein schwerer, von zwei Pferden gezogener Reisewagen angehörten, in Richtung Steyr. Früh am Morgen, noch im Dunkeln, hatte er die Herberge verlassen und war trotz der schlammigen Straße gut vorangekommen. Man hatte bereits die Ortschaft Wolfern passiert, als sich zum eintönigen Rumpeln der Räder mit einem Mal ein verdächtiges Ächzen gesellte – offenbar schickte sich die gepeinigte Vorderachse an, ihren Geist aufzugeben.
Der Befehlshaber der Berittenen – er führte den Zug an und war ein Stück weit vorausgeritten – brachte sein Pferd zum Stehen und wartete, bis das Gefährt auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Verdammt, Anton, glaubst du, die Achse wird halten? Seit einer halben Stunde ächzt und stöhnt sie wie meine Alte beim Kinderkriegen«, wandte er sich mit verhaltener Stimme an einen der beiden Männer auf dem Kutschbock. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben, schließlich war er für die Sicherheit des einzigen Fahrgastes, den der Wagen mit sich führte, persönlich verantwortlich.
Anton zuckte die Schultern. »Wer weiß das schon. Hoffen wir’s. Bert behauptet, er sei mit einer solchen Achse schon mal ’nen ganzen Tag lang gefahren. Als sie brach, war er fast am Ziel, nich wahr, Bert?«, sagte Anton und stieß den neben ihm sitzenden Kutschgefährten in die Seite.
»Ja, aber da war die Straße nicht so beschissen schlammig gewesen. Kostet die Achse ganz schön Kraft, wenn der Boden so durchgeweicht is’.«
Offenbar schien die Achse Berts Worte augenblicklich bestätigen zu wollen, denn gleich darauf bereitete ein dumpf-berstendes Geräusch dem Ächzen ein jähes Ende. Die beiden Vorderräder knickten zur Seite weg, was das klobige Fahrzeug abrupt zum Halten brachte und nach vorne neigen ließ. Die Pferde, durch den plötzlichen Ruck irritiert, wieherten laut und stampften mit den Hufen.
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