Falk ging zur Feuerstelle hinüber. Christine hatte ihm die Stelle in der Herdmauer, die dem Fenster gegenüberlag, genau beschrieben; er musste keine große Mühe aufwenden, um den Ziegel zu entdecken, der die Höhlung verschloss, und zog ihn heraus.
»Hier. Bedient Euch.«
Der Stadtrichter ging in die Hocke, griff vorsichtig in die Öffnung und tastete ausgiebig darin herum.
»Nichts«, verkündete er nach einer Weile enttäuscht und stand auf.
Natürlich nicht, dachte Falk und unterdrückte die abfällige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.
Auch die darauffolgende Untersuchung der Kate und des danebengelegenen Schuppens förderte nichts zutage, was irgendwie von Bedeutung gewesen wäre. Dennoch beschloss Falk, so bald wie möglich zurückzukehren, um eine erneute Inaugenscheinnahme vorzunehmen, jedoch allein und unbeobachtet.
»Ich denke, das war’s. Ich würde vorschlagen, wir reiten nach Hause. Ich habe noch einiges zu tun«, trat der Stadtrichter an ihn heran.
»Aber natürlich. Was geschieht mit der Leiche?«
»Die wird selbstverständlich noch heute geborgen werden. Allerdings …«, der Stadtrichter kratzte sich am Kopf, »normalerweise müsste ich den Leichnam bewachen lassen. Aber ich kann heute keinen meiner Büttel entbehren; ich benötige sie für die Suche nach dem entflohenen Waldenserschwein. Der Mann ist erst gestern wieder gesehen worden. Er hat Marthe Kranich, eine junge Frau, eine Kräutersammlerin, die in den Wäldern lebt, vergewaltigt.«
»Ein Waldenser, der Frauen vergewaltigt?«, fragte Falk ungläubig.
Von Panhalm schnaubte grimmig. »Ja. Es handelt sich noch dazu um einen ihrer Meister. Wir nennen ihn das ›Rußgesicht‹, weil er sein Gesicht mit Ruß färbt. Er muss mit dem Teufel im Bund stehen. Kaum dass er auftaucht, ist er im gleichen Augenblick auch schon wieder verschwunden. Da sieht man mal, wie sie wirklich sind, diese verdammten Ketzer. Tun so, als seien sie die Reinheit in Person, und dann so was. Aber ich werde ihn schon kriegen und dann gnade ihm Gott.«
Ein kantiger Zug legte sich um Falks Mundwinkel. Waldenser. Schon vor vielen Jahren hatte er sich mit den Lehren und der Weltsicht dieser eigenartigen, im Geheimen wirkenden Bruderschaft, die in vielen Gegenden des Reiches anzutreffen war, auseinandergesetzt. Obwohl als »secta Waldensium« von der Inquisition erbarmungslos verfolgt und gejagt, gelang es ihr seit über zweihundert Jahren, sich nicht nur zu behaupten, sondern ihre Anhängerschaft zu mehren. Ihre Angehörigen verwarfen die Stellung des Papstes, prangerten den ausschweifenden Lebensstil der Geistlichen an, lehnten die meisten der Sakramente ab und zogen gegen die Verehrung von Bildern, die Anrufung der Heiligen, das Fegefeuer und den Ablass zu Felde. Sie wären die Einzigen, die sich streng an die Lehren der Heiligen Schrift hielten, und somit seien sie die einzig wahre Kirche Jesu Christi – behaupteten sie. Wen wunderte es da, dass man die »Armen Christi«, wie sich die Waldenser selbst nannten, der Ketzerei sowie der ungeheuerlichsten Verbrechen und der Verübung scheußlichster Praktiken beschuldigte, was allerdings, wie Falk sehr wohl wusste, auf erbärmliche Weise an den Haaren herbeigezogen und größtenteils erstunken und erlogen war.
Ein Waldenserprediger, der eine Frau vergewaltigt hatte – war auch das nur eine böswillige Behauptung?
Plötzlich schoss ein Gedanke in Falk hoch, der seine Grübeleien sogleich wieder verdrängte.
»Wenn Ihr damit einverstanden seid, bleibe ich so lange hier, bis die Fuhrknechte kommen, um die Leiche abzuholen«, schlug er dem Stadtrichter vor.
»Das würdet Ihr tun? Da wäre ich Euch aber sehr verbunden.« Die verbissene Miene von Panhalms entspannte sich etwas; Falk glaubte, für die Dauer eines Wimpernschlags sogar eine Spur von Freundlichkeit darin entdeckt zu haben.
»Ich denke, wenn wir einander unterstützen, statt uns gegenseitig zu behindern, wird der Erfolg nicht ausbleiben, Herr Stadtrichter. Das ist gut für Euch und gut für mich. Und mit dem Segen Wernher von Ternbergs lebt es sich in Steyr leichter als ohne ihn, meint Ihr nicht auch?«, entgegnete Falk und versuchte sich an einem gewinnenden Lächeln.
Der Stadtrichter sah ihn überrascht an. Ein verlegenes Räuspern war jedoch das Einzige, was er hervorbrachte. Mit sichtlicher Hast und ohne auch nur mit einem Wort auf Falks Friedensangebot einzugehen, setzte er sich mit seinen Bütteln in Bewegung.
Falk wartete, bis die Männer beim Gatter angelangt waren, dann betrat er erneut die Kate. In einer Ritze der Bretterwand steckte noch eine brennende Fackel. Er ergriff sie und leuchtete nochmals jeden Winkel der Hütte aus. Den toten Zeitler, der nach wie vor auf dem Boden lag, ignorierte er.
Da waren das Bett und der Strohsack.
Da war das Regal an der Wand mit diversen Töpfen und Gefäßen.
Und da waren der Rauchfang und die Herdstelle.
Die Herdstelle! Obwohl sie den ummauerten Feuerplatz bereits einer eingehenden Prüfung unterzogen hatten, hielt Falk noch einmal die Fackel in die Öffnung und spähte hinein. Asche bedeckte etwa zwei Fingerbreit hoch den Boden, der aus Ziegeln bestand, die sorgfältig in den lehmigen Grund eingelassen waren. Einer Eingebung folgend, beugte er sich hinunter, griff mit der Rechten an verschiedenen Stellen in den mehligen, grauen Staub und ließ ihn langsam durch die Finger rieseln. Überrascht registrierte er, dass er noch leicht warm war. Plötzlich aber ertasteten seine Finger etwas, das sich dünn und biegsam anfühlte. Er zog es aus der Asche – und hielt gleich darauf einen Pergamentfetzen in den Fingern; Überbleibsel eines Schreibens, das offenbar hier im Herd verbrannt worden war. Es maß etwa vier Fingerbreit im Quadrat und war stark angekohlt. Dennoch gelang es Falk, zumindest einige wenige Wortfragmente zu entziffern. ›… Verd … Oss … Heimi …‹, las er im Licht der Fackel. Der Rest des Satzes verlor sich in dem breiten, schwarz verkohlten Rand, der unter seinen Fingern bereits zu zerbröseln begann. Was ihn verwunderte, war die Beschaffenheit des Pergaments; handelte es sich doch zweifelsfrei um den besten Beschreibstoff, den man für teures Geld bekommen konnte – um reinstes Vellum.
Vorsichtig steckte er das Fragment in seine Gürteltasche, beugte sich abermals hinunter und fuhr, die Finger wie einen Rechen benutzend, durch die Asche, in der Hoffnung, weiteres zutage zu fördern. Doch außer ein paar verkohlten Aststückchen und ein paar Tonscherben, die er sorgfältig auf die Mauer legte, fand er nichts.
Falk warf die Fackel in die Asche, wo sie bald erlöschen würde, und setzte sich grübelnd auf die Herdmauer.
Gundel Schreyer war nicht nur im Besitz eines für Klara von Ternberg kompromittierenden Briefes gewesen; durch seine Hände musste ein weiteres Schreiben gegangen sein, das, aus welchen Gründen auch immer, in seinem Herd verbrannt worden war. Wie war er in den Besitz der Dokumente gelangt? Gab es etwas, das ihn mit Lamprecht Bürgel verbunden hatte? Vielleicht würde ein Besuch bei dessen Witwe weiteren Aufschluss geben. Falk beschloss, sie so bald wie möglich aufzusuchen.
Nachdenklich musterte er den Leichnam Schreyers, der steif und starr auf dem Fußboden ruhte. Bald würde ein Fuhrwerk kommen und den toten Zeitler zum Friedhof karren – wie viele seiner Geheimnisse würde er wohl mit ins Grab nehmen?
Falk erhob sich und trat ans Fenster. Es wurde immer heller. Irgendwo stoben aufgeregt krächzend zwei Krähen empor, Zeichen dafür, dass der Tag nun vollends erwacht war. Ob Christine wohl schon …
… ssst – ein Geräusch, drüben beim Schuppen …
… der flüchtige Anblick einer schwarzen Fratze …
… und ein leises Sirren.
Verbunden mit einem kalten Hauch, schwirrte etwas an Falks Ohr vorbei.
Ein Fluch entfuhr seinen Lippen. Einem ausgeprägten Instinkt folgend, duckte er sich blitzschnell unter das Fenster, riss den Dolch aus dem Gürtel und schnellte mit zwei mächtigen Sätzen zum Eingang, wo er mit angehaltenem Atem neben der halb geöffneten Tür verharrte.
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