»Sie meinen den Klimt … den … den … Gustav Klimt?«
Leo Goldblatt nickte und bestellte beim vorbeischlendernden Kellner:
»Gehn S’, bringen S’ mir einen ›Goldblatt‹ ohne Kaffee.«
Der Kellner stutzte, nickte dann und sagte:
»Der Herr Leutnant wünschen einen Trebern. Kommt sofort.«
Nechyba bemerkte amüsiert:
»Noch komplizierter kann man eine Bestellung wirklich net aufgeben.«
»Wieso? Ich hab’ Gusto auf einen ›Goldblatt‹. Da es keinen Bohnenkaffee gibt und der Türkische, der mit Ersatzkaffee zubereitet wird, noch grauslicher schmeckt, als wenn man ihn normal kocht, bestelle ich den ›Goldblatt‹ eben ohne Kaffee.«
»Und was bringt das?«
»Na, dass ich die Illusion hab’, auch in diesen Zeiten einen ›Goldblatt‹ bestellt zu haben.«
»Mein Gott, wann werden wir wieder eine Schale Bohnenkaffee bekommen?«
»Als Mitglied des Kriegspressequartiers antworte ich Ihnen: Sobald unsere glorreiche Armee den Feind besiegt hat. Inoffiziell, als Ihr Freund, sag ich nur: Lang kann das nicht mehr so weitergehen. An allen Ecken und Enden merken wir es jetzt auch bei der Armee. Die Mangelwirtschaft gibt den Ton an. Es ist schrecklich. Einfach nur schrecklich.«
Nechyba rückte ganz nahe zu Goldblatt und murmelte:
»Der Scheißkrieg muss endlich aufhören und …«
Er wurde von einer lauten Stimme unterbrochen:
»Leutnant Goldblatt, na, so eine Überraschung!«
Goldblatt erschrak, stand auf und salutierte.
»Ist schon gut, lieber Freund. Setz’ dich, setz’ dich …«
»Darf ich vorstellen? Oberst Eisner-Bubna, Leiter des Kriegspressequartiers. Oberinspector Nechyba, er arbeitet im Polizeiagenteninstitut.«
»Charmant, charmant! Da sitzen Vertreter der zwei wichtigsten Säulen unseres Staates beisammen: Armee und Polizei. Da setz’ ich mich doch glatt dazu. Meine Herren, was trink ma?«
»Ich hab’ gerade ein Stamperl 37Trebern bestellt.«
»Genial, Goldblatt! Einfach genial. Herr Ober!«
»Der Herr Oberst wünschen?«
»Der Herr Leutnant hat einen Trebern bestellt. Das geht net. Bringen S’ uns die ganze Flasche … und drei Gläser … weil ma da so charmant beisammensitzen, Armee und Polizei.«
Zwei Piccolos 38stellten einen Zusatztisch auf. Darauf kam in einem Eiskübel die Flasche Trebern. Der Oberkellner schenkte den drei Herren mit eleganter Geste ein. Der Oberst erhob sein Glas.
»Also servus, gell. Auf unsere siegreiche Armee und unsere tüchtige Polizei!«
Die drei Herren schütteten den Schnaps hinunter und stellten die Gläser mit klirrendem Geräusch zurück auf die marmorne Platte des Kaffeehaustisches. Der Oberst räusperte sich und sagte:
»Also, wo war ma vorher stehen geblieben? Wo hab’ ich euer Gespräch unterbrochen, meine Herren?«
Nechyba verdrehte die Augen und bemühte sich, keinen roten Kopf zu bekommen. Goldblatt antwortete kühl:
»Bei Klimt. Der is’ nämlich g’storben.«
»Klimt? Muss man den kennen?«
»Er war Präsident der Secession und Star der Kunstausstellungen in den Jahren 1908 und 1909. Sein Bild ›Der Kuss‹ wurde sogar vom Ärar 39erworben.«
»Ich erinner’ mich dunkel … viel Gold … viel Gold, nicht wahr?«
»Touché, Herr Oberst. Klimt liebte es, Gold in seinen Gemälden zu verwenden.«
»Auf das Gold! Auf das Gold dieser Welt trink ma jetzt, prost, meine Herren!«
Wieder kippten Nechyba, Goldblatt und Eisner-Bubna ihre Stamperln hinunter. Danach herrschte ergriffene Stille. Plötzlich kniff der Oberst die Augen zusammen und fragte Goldblatt leise:
»Sag, Herr Leutnant, hat dieser Kimt oder Zimt oder wie er g’heißen hat, hat der nicht auch Nackerte g’malt? Nackerte mit viel Gold?«
»Herr Oberst, du hast ein exzellentes Gedächtnis und einen ausgezeichneten Kunstgeschmack.«
»Jaja … meine Frau Mama hat immer wollen, dass ich Künstler werd’. Aber mein Herr Papa hat mich in die Militärunterrealschule gesteckt. Na ja … fotografieren … nicht wahr … tu’ ich schon gern, da sagt man mir auch ein gewisses Talent nach. Aber dieser Zimt … alle Achtung! Der hat was können, der hat Nackerte gemalt à la bonne heure.«
Der Oberkellner schenkte neuerlich die Stamperln voll. Eisner-Bubna ergriff seines, erhob es und sagte feierlich:
»Auf den alten Zimt und auf die Hunderttausende Braven, die in unserer glorreichen Zeit für Gott, Kaiser und Vaterland ihr Leben geben …«
Er hielt inne und fügte leise hinzu:
»… und auf die feschen nackerten Madln von Wien!«
35minderwertige Menschen
36lautstark klopfen
37Schnapsglas
38Kellnerlehrlinge
39Staat
Hätte auch die Monarchie als Ganzes ernährungswirtschaftlich eine Blockade des Auslandes aushalten können – Österreich für sich, dessen Produktion naturgemäß durch den Krieg mit seinen Folgeerscheinungen schwer gelitten hatte, konnte die Blockade des Auslandes und eine Absperrung der Zufuhren seitens Ungarns nicht ertragen. Es mußte in die allermißlichste Ernährungssituation geraten, denn der Ausfall der von Ungarn im Frieden gelieferten Mengen an Nahrungs- und Futtermitteln konnte im Kriege selbst bei bester Verwaltung durch Ersparungs- und Verteilungsmaßnahmen nicht wettgemacht werden.
Zitat aus: Dr. Hans Loewenfeld-Russ, Die Regelung der Volksernährung im Kriege, Hölder-Pichler-Tempsky A.G., Wien 1926.
Am 9. August 1918 war der Morgen strahlend schön. Stanislaus Gotthelf hatte wie immer lange geschlafen. Er streckte und reckte sich. Dann gähnte er herzhaft. Schließlich tapste er zum Waschtisch, goss etwas Wasser in das Lavoir und wusch sich Gesicht, Hals und Oberkörper. Dann applizierte er Rasierseife auf Wangen, Oberlippe und Hals und begann mit der morgendlichen Rasur. Nachdem er die restliche Seife von den glatten Wangen mit kaltem Wasser abgespült hatte, fühlte er sich erfrischt und für den Tag bestens gerüstet. Er zog sich Hemd und Sakko an, riss den Vorhang zur Seite, hinter dem die beiden Bettgeher auf einem Matratzenlager schnarchten. Er stieß mehrmals mit dem Fuß gegen die Matratzen und weckte Zach und Husak mit folgenden Worten:
»Aufwachen, ihr Faulpelze!«
Husak streckte sich, rammte dabei Zach den Ellbogen in den Bauch, sodass dieser laut fluchte. Gotthelf kommandierte:
»Schaut’s, dass rauskommt’s! Als Bettgeher habt’s ihr tagsüber hier nix verloren.«
Langsam standen die beiden auf und streckten sich. Zach funkelte Gotthelf böse an:
»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, hochwohlmögender Herr von Gotthelf!«
»Wennst mich papierln 40willst, kannst heut Nacht auf der Straße schlafen.«
»Is schon gut … is’ ja schon gut. Gehen schon. Alles in Ordnung«, beschwichtigte Husak und zog Zach aus der Gotthelf’schen Hütte, die sich im zweiten Hinterhof eines Hauses befand.
Plötzlich erklang hoch oben in den Lüften ein mächtiges Brummen. Es war der Lärm von Motoren. Husak sah erstaunt empor, Zach lehnte sich vollkommen verschlafen und desinteressiert an die Außenwand der Hütte und zischte:
»Gotthelf, du Oasch!«
Gotthelf riss es. Er überlegte, ob er Zach antworten sollte, doch seine Neugier war größer. Was ging dort oben am Himmel vor? Was war da draußen los? Mit eiligen Schritten durchmaß er die beiden Innenhöfe und trat hinaus auf die Wienzeile. Und – oh Wunder – es schneite! Mitten im Sommer. Tausende bedruckte Zettel segelten im sanften Sommerwind auf den Erdboden nieder. Gotthelf stand mit dem Kopf im Nacken da, schirmte die Augen mit der Handfläche ab und versuchte, die Ursache dieses Wunders zu ergründen. War es ein Mirakel? Nein, es waren Flugzeuge, die da oben am Himmel flogen. Eins, zwei, drei, vier, fünf Flugzeuge. Und dort, dort war noch ein sechstes! Was waren das für Zettel, die sie da abwarfen? Mit nervösem Blick beobachtete Gotthelf die unzähligen Blätter, die, von der sanften Sommerbrise beflügelt, durch die Lüfte und über die Straße und die Gehsteige tanzten. Er eilte ihnen nach − und da! Da hatte er sich endlich einen geschnappt. Aber halt! Dort flog ja ein bunter, der die Farben der italienischen Trikolore trug. Auch den schnappte er sich. Mit dem Fangen der Flugblätter aus der Luft beziehungsweise mit dem Aufheben derselben waren mittlerweile alle auf der Straße befindlichen Leute beschäftigt. Besonders die Straßenjungen machten sich einen Sport daraus, möglichst viele der Zettel zu ergattern. Plötzlich hörte Gotthelf die Trillerpfeife eines Sicherheitswachmanns. Zwei bloßfüßigen Lausbuben riss der Uniformierte die Zettel aus der Hand, und auch von anderen Passanten verlangte er, die aufgesammelten Flugblätter herauszurücken. Gotthelf faltete seine zusammen und steckte sie in die Tasche des Sakkos. Dann spazierte er laut pfeifend durch die zwei Innenhöfe zurück zu seinem Schuppen.
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