63Grieben
64gemeinsame Wasserentnahmestelle
»Das riecht himmlisch!«
Nechyba nahm seine Frau, die abgearbeitet und müde heimgekommen war, in die Arme.
»Heut pfeif ma auf die neue Zeit. Heut ess ma so wie früher.«
»Das sind ja gebratene Knackwürste, und das riecht nach Schmalz. Nechyba, wo hast denn das Schmalz her?«
»Selber ausgelassen.«
»Und woher hast den Speck?«
»Vom Guadn.«
»Hast mit dem Gauner schon wieder Geschäfte gemacht?«
»Auf Anweisung aus dem Innenministerium.«
»Was? Der Herr Hofrat hat schon wieder eine Bestellung aufgegeben?«
Nechyba nickte und schob seiner Frau zwei Grammeln in den Mund. Aurelia schloss die Augen und zerkaute die leicht knusprigen und gleichzeitig cremig milden Fettstücke behutsam. Sie registrierte, dass sie von Nechyba ein klein wenig gesalzen worden waren. Ein wollüstiger Schauer überrieselte sie.
»Komm, trink ein Schluckerl Wein!«
»Aber …«
Sie nippte an dem ihr vor die Nase gehaltenen Weinglas, ließ den Rebensaft über den Gaumen rollen und seufzte dann:
»Ach, Nechyba …«
Als er über den Naschmarkt stapfte und die Tristesse des mangelhaften Warenangebots sah, erinnerte er sich an das wunderbare Kürbisgemüse, das er gestern zubereitet hatte. War das ein Fest gewesen! Nechyba dachte mit großem Vergnügen an den vergangenen Abend, als er und seine Frau das Kürbisgemüse und in Schmalz herausgebratene Knackwürste verspeist hatten. Die geschnittenen Zwiebeln hatte er im Schmalz glasig angeröstet, danach war in das heiße Fett zischend der fein gerissene Kürbis gekommen. Das Ganze hatte er mit Paprikapulver, Salz und Kümmel gewürzt und mit Hesperiden-Essig 65abgelöscht. Danach hatte er etwas Wasser dazugegossen, sodass der Kürbis leise vor sich hin geköchelt hatte. Früher hätte er als krönenden Abschluss eine Portion Rahm in das Gemüse gerührt, doch Rahm gab es schon lange nicht mehr. Bei seinen Reminiszenzen an den vergangenen Abend lief Nechyba das Wasser im Mund zusammen. Auch die Knackwürste, die er enthäutet, der Länge nach halbiert und kreuzweise eingeschnitten hatte, waren ein Gedicht gewesen. Wie gebratene Igel hatten die knusprigen, etwas eingerollten Würste ausgesehen. Und dazu der Grüne Veltliner! Nechyba seufzte. Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich beim Überqueren der Rechten Wienzeile auf den Verkehr. Dass er jetzt zur Behausung des verblichenen Gotthelf unterwegs war, war ebenfalls ein Ergebnis des gestrigen Abends.
»Tot? Der Gotthelf is’ tot? I glaub’s net.«
Nechyba hatte einen Schluck Wein genommen und traurig genickt.
»Das hat mir der Fraczyk heut erzählt.«
»Und wie is’ er g’storben?«
»Derschlagen. Angeblich is’ er derschlagen worden.«
»Wieso angeblich?«
»Nix Genaues weiß man nicht.«
Aurelia hatte ebenfalls einen Schluck Wein genommen, dann das Glas energisch auf den Tisch gestellt, ihren Mann streng angesehen und gesagt:
»Nechyba, bist du a Kiberer oder a alter Krauderer 66?«
Nechyba hatte geschluckt und geschwiegen. Dann war Aurelia mit ihrem Sessel so nah zu ihm hingerückt, dass er die Wärme ihres Körpers gespürt hatte.
»Nechyba, der arme Gotthelf! Dem schuldest du sowieso noch was. Also was wirst du morgen tun?«
»Was?«
»Du wirst morgen mit dem Nachwassern 67beginnen. Und seinen Tod aufklären.«
»Na geh!«
»Nix, na geh. Du gehst morgen gleich in der Früh rüber über den Naschmarkt und fangst mit den Nachforschungen an. Versprichst du mir das?«
Die Wärme ihres Busens und ihres Schenkels hatten in Nechyba Gelüste geweckt. Aber nicht auf ein Streitgespräch. Also hatte er ihr ein dickes Busserl gegeben und gebrummt:
»Versprochen.«
65Tafelessig
66alter, unfähiger Kerl
67hier: ermitteln
15 Jahre ist es her. Vor 15 Jahren war ich das letzte Mal in diesem Hinterhof. Als das Dienstmädel der Familie Schmerda − wie hieß sie nur? Mizzi, glaub’ ich − als die Mizzi ermordet worden war. Damals hab’ ich den Gotthelf verdächtigt. Jetzt ist er tot. Und nun sitzt mir meine Frau im Genick, dass ich die Sache aufklären soll. Obwohl das überhaupt nicht meine Zuständigkeit ist! Nechyba schüttelte sich vor Unwillen und klopfte an die Tür des Salettls, in dem der Verblichene gewohnt hatte. Zuerst leise, dann lauter, schließlich pumperte der Oberinspector mit seiner Faust gegen das ächzende Holz.
»Was is’ denn das für a Wirbel da? A Ruh is’! Ruheee!«
Nechyba drehte sich um und sah einen fetten alten Kerl, der aus einem Fenster im Erdgeschoss schaute.
»Schreien S’ net umadum. Wenn einer schreit, dann bin i das.«
»Und wer sind Sie?«
»Oberinspector Nechyba. K. k. Polizeiagenteninstitut.«
»Oha! A Großkopferter.«
»Werden S’ net frech, Sie! Wer sind Sie überhaupt?«
»I? I bin der Hausmasta da.«
»Name!«
»Hirnigl. Eusebius Hirnigl.«
»Also Hirnigl, passen S’ auf: Sie bewegen jetzt Ihren Hintern heraus und sperren mir die Behausung vom Herrn Gotthelf auf.«
»Herr Gotthelf? Der Gotthelf is’ ka Herr. Sie sind a Herr. Unser Hausherr is’ a Herr. Aber der Gotthelf war a Pfeifenstierer 68.«
»I brauch’ den Schlüssel.«
»I hab’ aber kan Schlüssel.«
»Das gibt’s net!«
»Wann ich Ihnen sag, dass i kan Schlüssel hab’.«
»Und warum net?«
»Weil mir der Pepi Gotthelf, der was der Adoptivsohn vom verblichenen Gotthelf is’, den Schlüssel abgenommen hat.«
»Derf er denn das?«
»Die Hausfrau hat’s ihm erlaubt.«
»Und warum?«
»Weil’s mit ihm unter einer Decke steckt.«
»Und was sagt der Hausherr dazu?«
»Nix. Der is’ an der Front in Italien.«
»Wollen Sie andeuten, dass die Hausfrau a Gspusi mit dem jungen Gotthelf hat?«
»Das haben Sie jetzt gesagt, Herr Oberinspector.«
»Und wo find’ i den jungen Gotthelf?«
»Oben. Bei der Hausfrau. In der Hausherrnwohnung.«
»Die zwei haben also keinen Genierer.«
»Das haben wiederum Sie gesagt, Herr Oberinspector. Von mir hören S’ dazu keinen Ton. Was wollen S’ denn vom Pepi Gotthelf?«
»Befragen will ich ihn. Zum Tod seines Vaters.«
»Da werden S’ net viel erfahren. Den haben die anderen Kiberer schon ausg’fratschelt 69. Das bringt nix.«
Nechyba sah Hirnigl nachdenklich an und zupfte dabei an seinem Schnauzbart.
»Und was würde was bringen?«
»Na, wenn S’ zum Beispiel die beiden Bettgeher befragen würden.«
»Was für Bettgeher?«
»Die, die der Gotthelf bei sich einquartiert g’habt hat.«
»Davon weiß i ja nix.«
»Davon weiß niemand was. Das hat der Gotthelf still und heimlich g’macht. Das hat er net an die große Glocke g’hängt.«
»Und wo find’ ich die beiden?«
»Untertags haben sie sich immer am Naschmarkt herumgetrieben.«
»Wissen Sie, wie die heißen?«
»Der eine war a Behm. Der hat den anderen einmal Zach gerufen.«
»Zach?«
»Ja.«
»Und der Behm?«
»Ka Ahnung, wie der heißt.«
»Und warum ham Sie das alles net meinen Kollegen erzählt?«
»Weil s’ mich net g’fragt ham.«
68langer, dünner Mensch, der nicht viel zählt
69befragt
Karel Husak schlenderte die Praterstraße entlang. Ein breiter Boulevard, auf dem an diesem Dienstagmorgen reger Verkehr herrschte. Bimmelnd fuhren Tramway-Garnituren, Pferdefuhrwerke klapperten und ratterten über das Kopfsteinpflaster. Flaneure, Dienstmädeln, Hausfrauen, ein paar Lausbuben sowie einige Männer in Zivil und unzählige in Uniform prägten das Straßenbild. Die Uniformierten bewegten sich wie Schlafwandler, die mit erstaunten Blicken registrierten, dass es jenseits der schmutzstarrenden Schützengräben auch noch Asphalt, Kaufläden, Spiegelflächen, gedeckte Tische und parfümierte Damen gab. Sie schlurften durch die Straßen und rochen nach Schlamm und Karbol. Gekleidet in Uniformen, die nichts mehr mit dem eleganten Hechtgrau der seinerzeitigen k. u. k. Armee-Uniformen gemein hatten, sondern in den Farben Erdgrau, Dreckgrau und Grabesgrau schillerten. Die Wienerinnen und Wiener empfanden die Uniformierten nicht mehr als heldenhafte Vaterlandsverteidiger, sondern als degoutante Pechvögel. Jeder war bemüht, möglichst nicht an diese schmutzstarrenden Bazillenträger anzustreifen.
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