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Die Schweiz und die EU sind durch eine Vielzahl von bilateralen Abkommen unterschiedlicher Generationen miteinander verbunden. Dazu gehören rund zwanzig Hauptabkommen und über hundert weniger bekannte gegenseitige Abmachungen in der Form von Sekundärabkommen. Die Grundlage dieses dichten Vertragsnetzes bildet das Freihandelsabkommen von 1972. 1999 wurde das Paket der Bilateralen I abgeschlossen; dabei handelt es sich um sieben Abkommen, welche vornehmlich den Marktzugang und die Personenfreizügigkeit zum Gegenstand haben. 2004 wurde das Paket der Bilateralen II geschnürt; die davon betroffenen neun Abkommen gehen über den hauptsächlich wirtschaftlichen Rahmen der Bilateralen I hinaus und betreffen namentlich auch Justiz und Inneres, Visa und Asyl, Umwelt, Kultur und Bildung. Diese Abkommen sind als Antwort auf konkrete Bedürfnisse und im Rahmen von windows of opportunities entstanden und bilden kein umfassendes, kohärentes System. Gleichwohl bestehen zwischen den Abkommen Querbezüge und Abhängigkeiten. Zeitweise teilen einzelne Abkommen ein gemeinsames rechtliches Schicksal (Guillotine-Klausel). Zeitweise macht die EU die Anpassung eines Abkommens an neues EU-Recht oder den Abschluss neuer Abkommen von einem Entgegenkommen der Schweiz in anderen Dossiers abhängig.
Die EU blockierte im Nachgang zur Annahme der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» von 2014 die Übernahme neuer EU-Rechtsakte in das KonfBA, um den Druck auf die Schweiz zu erhöhen, eine mit dem FZA vereinbare Umsetzung der Initiative zu wählen. Aktuell ist die EU nicht bereit, neue Binnenmarktabkommen – wie das Stromabkommen – abzuschliessen, solange die Schweiz dem InstA nicht zustimmt. Sie ist ebenso wenig bereit, bestehende Binnenmarktabkommen zu aktualisieren, sofern keine Fortschritte beim Abschluss des InstA erzielt werden (Aussenpolitischer Bericht 2019, S. 1582); dies betrifft etwa die Übernahme der Novellierung der Richtlinie zur Medizinaltechnik. Ähnliches gilt in Bezug auf die Assoziierung an Horizon Europe oder den Abschluss des Gesundheitsabkommens (Antwort des Bundesrates vom 13. Februar 2019 auf die Anfrage 18.1079 «Erpressungen durch die EU im Gesundheitsbereich?»; Aussenpolitischer Bericht 2019 S. 1583); auch hier verlangt die EU ein Entgegenkommen der Schweiz beim InstA, obwohl weder die Assoziierung an Horizon Europe noch das Gesundheitsabkommen (dessen Inhalt öffentlich allerdings nicht bekannt ist) typische Binnenmarktabkommen sind.
Die EU hat wiederholt bekräftigt, dass sie den baldigen Abschluss des Institutionellen Abkommens erwartet. Der seit Dezember 2018 vorliegende Entwurf eines solchen Abkommens bietet eine Gelegenheit, sich grundsätzlich mit der Gestaltung der Beziehungen zur EU auseinanderzusetzen. Der bilaterale Weg in seiner jetzigen Form steht auf dem Prüfstand.
In Ergänzung zu den bilateralen Abkommen wird das Verhältnis der Schweiz zur EU und zu ihren Mitgliedstaaten durch eine Vielzahl weiterer staatsvertraglicher Regelwerke und internationaler Organisationen geprägt. Dazu gehören zuvörderst die UNO-Pakte I und II, die OECD, der Europarat, die EMRK und die weiteren Konventionen unter der Ägide des Europarates (Minderheitenschutz, Soziales, Bildung, Kultur, Privat- und Strafrecht), wobei die EU bei diesen Organisationen und Regelwerken nicht Vertragspartei ist, wohl aber ihre Mitgliedstaaten. Im Handelsrecht stellt das WTO-Recht auch für das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU die Grundordnung dar; hier ist die EU parallel zu ihren Mitgliedstaaten formell Vertragspartei. Im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit und der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist das revidierte Lugano-Übereinkommen (LugÜ) bedeutsam; dieses Übereinkommen gilt zwischen der EU, Dänemark sowie den EFTA-Mitgliedstaaten Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz. Im Klimaschutz besteht eine Vielzahl von Verträgen und Protokollen, welche häufig unter dem Dach der UNO und ihres Umweltprogramms UNEP ausgehandelt wurden. Dazu gehören die Klimaschutzrahmenkonvention (UNFCCC) von 1992, das Kyoto-Protokoll von 1997 und das Pariser Abkommen von 2015; auch bei diesen Verträgen ist die EU parallel zu ihren Mitgliedstaaten Partei. Unzählige Verträge zwischen der Schweiz und einzelnen europäischen Staaten – insbesondere den Nachbarstaaten Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Italien und Frankreich – komplementieren diese Regelwerke. In Ergänzung zu klassischen völkerrechtlichen Bindungen bedienen sich Staaten und Entitäten zunehmend auch internationaler Foren und transnationaler Netzwerke, deren Berichte, Empfehlungen und Verlautbarungen zwar rechtlich nicht verbindlich sind, faktisch aber gleichwohl weitreichende Wirkung entfalten; dazu gehört etwa der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, dessen Standards für die Regulierung und Beaufsichtigung von Banken (z.B. Eigenmittelanforderungen) weltweit und damit auch für die EU und die Schweiz normgebend wirken und Eingang in die unionalen und nationalen Rechtsordnungen finden.
Zeitweise werden Verträge direkt zwischen den Gemeinwesen in den Grenzregionen abgeschlossen (Art. 56 BV; kleine Aussenpolitik). Zurzeit sind deutlich mehr als 100 Verträge zwischen Kantonen und anderen Staaten oder grenznahen Regionen in Kraft (R. Rhinow/M. Schefer/P. Uebersax, Rz. 3730), typischerweise in den Bereichen Verkehr, Bildung, Kultur, Raumplanung, Umweltschutz und Wirtschaft. Beispiele sind die Gegenrechtsvereinbarungen zwischen dem Kanton St. Gallen und Österreich bzw. dem österreichischen Bundesland Niederösterreich über die Anerkennung von Jagdkarten (1976, sGS 853.155) bzw. der Jägerprüfung (1999, sGS 853.163).
Diese völkerrechtlichen Regelwerke – auf die bei der Darstellung der bilateralen Abkommen bereichsspezifisch Bezug genommen wird – sind beim Studium der bilateralen Abkommen allesamt zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für allgemeine Rechtsgrundsätze und Völkergewohnheitsrecht. Bei Kollisionen sind spezielle Vorgaben (s. etwa Art. 21 FZA betr. Doppelbesteuerungsabkommen; Art. 16 LVA betr. Vereinbarungen über Verkehrsrechte für Luftfahrtunternehmen) und die allgemeinen Regeln über die Einhaltung, Anwendung und Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen anwendbar (Art. 26-33 WVRK), zuvörderst die Grundsätze lex specialis derogat legi generali und lex posterior derogat legi priori .
Parallel zum völkervertragsrechtlich abgesicherten Bilateralismus verfolgt die Schweiz seit 1988 eine Politik des autonomen Nachvollzugs bzw. – synonym verstanden – der Europaverträglichkeit. Neue Gesetze und Verordnungen wie auch die Änderung von bestehenden Erlassen werden auf Bundesebene im Vorbereitungsstadium systematisch auf ihre Europakompatibilität hin überprüft (Art. 141 Abs. 1 lit. a ParlG). Bereits 1998 hielt der Bundesrat fest, dass mit der Einführung der Europaverträglichkeitsprüfung ein «Europareflex» geschaffen wurde; neue schweizerische Erlasse «sind im allgemeinen eurokompatibel, ausnahmsweise nicht» (Antwort des Bundesrates vom 13. Mai 1998 auf die Einfache Anfrage 98.1032 «Swisslex II»). Damit wird das schweizerische Recht fortlaufend europäisiert, ohne dass staatsvertragliche Verpflichtungen den Anpassungsprozess auslösen. Die Politik des autonomen Nachvollzugs gehört mittlerweile zum Standardrepertoire des Gesetz- und Verordnungsgebers in Bern. Es gibt in der Schweiz kaum mehr ein Rechtsgebiet, welches nicht direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst wird. Dieses wird auch in der Schweiz zum gelebten ius commune .
Dieses Buch behandelt die rechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Der erste Teil skizziert die sektoriell weit fortgeschrittene Integration der Schweiz in den unionalen Rechtsraum und reflektiert die fehlende Abbildung dieser Integration in der Bundesverfassung. Der zweite Teil stellt die bilateralen Abkommen vor, ihre Entstehung und Grundzüge, ihre institutionelle Ausgestaltung – inkl. Seitenblick auf das geplante Institutionelle Abkommen – sowie den Inhalt der einzelnen Abkommen. Der dritte Teil widmet sich dem autonomen Nachvollzug von EU-Recht in der Schweiz. Ein Epilog rundet die Ausführungen ab.
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