Er wartete, bis er seine Fock aus dem Container holen konnte, lud sie auf eine der Wippen, die offenbar herrenlos herumstanden, und lief zum Bootshafen.
Auf der Achteran zeigte sich keine Bewegung. »Na, mein Madamchen hat ihre freie Zeit ja ausgiebig genutzt. Selbst jetzt ist sie noch unterwegs.« Ein kleiner Schwall Magensäure stieg in seiner Speiseröhre hoch. Ob vom Ärger oder den verspeisten Hamburgern mit Pommes, konnte er im Augenblick nicht ermitteln. Er beschloss, sein Unwohlsein auf den Ärger über seine möglicherweise nicht anwesende Gattin zu schieben. Prophylaktisch sozusagen.
Als er auf sein Boot stieg, stellte er fest, dass die Kajütentür von außen verriegelt war. Wenigstens daran hat sie gedacht, dachte er. Er öffnete die Tür, und was er dann sah, veranlasste ihn, drei Doppel Whopper mit Pommes/Majo nebst vier Cola in den Baltrumer Bootshafen zu kotzen.
Britta und Hendrik setzten sich an den letzten freien Tisch auf der Terrasse vor dem Restaurant. Von einem großen, grünen Schirm vor der Sonne geschützt, hatten sie einen wunderschönen Blick über die Hellerwiesen bis zum Hafen und über das alte Pfahlschutzwerk bis zur Strandmauer.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend und genossen ihren Kaffee mit Aussicht. Das wird mir fehlen, wenn ich wieder in Leer bin, dachte Britta, auch wenn es dort ganz bezaubernde Ecken und Winkel gibt und ich diese Stadt sehr liebe.
Als sich der Kaffee dem Ende zuneigte, versuchte Britta noch einmal, die ganze Geschichte aus Henning herauszuholen. Er aber gab sich wortkarg und blieb bei seiner Version.
»Wolf und Rolle heißen die beiden. Rolle ist ein alter Freund von mir und Wolf ein Gast aus Bremen, der Rolle zufällig kannte und hier wieder getroffen hat. Das haben wir gefeiert. Du kannst sie ja fragen, wenn du unbedingt willst.«
Britta empfand bei Hendriks Erklärung einen üblen Nachgeschmack. Eigentlich war es nicht die Geschichte an sich, sondern sein Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie er sie erzählte. Es klang alles so diffus und abweisend. Als hätte er ein ausgeprägt schlechtes Gewissen. Außerdem war klar, dass er seine Worte nicht beweisen musste, denn sie hatte keine Ahnung, wo sie die beiden Männer finden sollte.
»Danke, kein Bedarf, warum solltest du mich anlügen«, antwortete sie gereizt und konzentrierte sich auf ihren Kaffee.
Eigentlich hatte sie gehofft, sie könnte ihm die Story von ihrem Ex erzählen und von den Ängsten, die sie deswegen verfolgten. Aber als Hendrik nach einer Weile tatsächlich fragte, warum sie schon so früh bei ihm aufgetaucht sei, führte sie nur eine Stunde Freizeit als Argument an. Sie hatte das Gefühl, dass Hendrik im Moment nichts weniger interessierte als ihr Exmann.
»Schau mal, der Polizist fährt mit ’nem Affenzahn Richtung Hafen, siehst du das?« Hendrik zeigte, froh über die Ablenkung, mit ausgestrecktem Arm zur Hafenstraße. »Und der Hilfssheriff folgt ihm auf dem Fuße, nein, auf dem Rade.« Er grinste, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht.
Britta schaute hinter den beiden her. Was da wohl passiert war?
Einige Zeit später hörten sie aus der Ferne Sirenenalarm. Einige Gäste waren aufgestanden und beugten sich über die Brüstung, um nichts von der sich anbahnenden Aufregung zu verpassen.
Hendrik und Britta sahen den Krankenwagen mit großer Geschwindigkeit hinter den beiden Polizisten her zum Hafen fahren. Die blaue Rundumleuchte und der Signalton sorgten in Sekundenschnelle für Platz auf der Hafenstraße.
»Wollen wir los? Ich muss wieder zu meiner Gruppe und du wirst sicher noch ein Schläfchen machen wollen.« Britta hatte auf einen zumindest klitzekleinen Widerspruch gehofft, aber sie sah sich enttäuscht. Hendrik nickte.
»Das wäre gut, lass uns zum Hafen gehen. Dein Fahrrad steht da noch und meine Koje wartet auch auf mich.« Hendrik legte das Geld auf den Tisch, und sie machten sich wortlos auf den Weg.
Von der unbeschwerten Fröhlichkeit der letzten drei Tage war nichts geblieben, und davon, den Abend zusammen zu verbringen, war keine Rede mehr.
Inselpolizist Michael Röder und Thomas Zahn, ein Kollege vom Festland, der im Sommer als Verstärkung aushalf, hatten in dem kleinen Büro der Polizeidienststelle Teepause gemacht, als der Einsatzbefehl von der Leitstelle gekommen war. Verblüfft hatten sie sich angeschaut, denn der Kollege hatte von »literweise Blut« gesprochen, und dass er daraufhin auch die Ärztin alarmiert habe.
»Wenn das man kein Dummejungenstreich ist«, hatte Röder gesagt. »So nach dem Motto: Sollen die sich auch ruhig mal bewegen.«
Als sie mit ihren Fahrrädern am Sportboothafen ankamen, war ihnen klar, dass tatsächlich etwas passiert sein musste. Am Ende des ersten Quersteges scharte sich eine kleine Gruppe um einen Mann, der laut schluchzend auf dem Steg saß. Ein brauner Terrier, der seine Leine hinter sich herzog, begrüßte die Polizisten mit lautem Bellen.
»Was ist passiert?«, fragte Röder den Hafenmeister, der abseits der Gruppe stand und betont gleichgültig ins Hafenbecken blickte.
Der sagte nur: »Da drin in der Achteran. Mausetot ist die.«
Die Gruppe machte ihnen bereitwillig Platz. Die Kajütentür der Achteran stand weit offen und den beiden Polizisten bot sich ein Bild, das sich wohl für lange in ihr Gedächtnis einbrennen würde.
Halb auf der Sitzbank und halb auf dem Boden lag eine Frau. Der nackte Oberkörper war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Überall lag zerbrochenes Glas und es roch beißend nach Alkohol, obwohl die Kajütentür sicherlich schon eine Zeit lang offen gestanden hatte. Eine leere Flasche rollte mit der Bewegung des Bootes in einem See von Blut hin und her.
Der Kopf der Toten lag angewinkelt auf der Bank, um den Hals festgezurrt sahen sie einen weißen Spitzenbüstenhalter.
Ihr kleiner Slip war bis zu den Knien hinabgezogen.
Michael Röder wurden die Beine weich. Er schaute seinen Kollegen an und stellte fest, dass es dem auch nicht besser ging. Sie nickten sich aufmunternd zu und drehten sich um.
»Weiß jemand, was hier passiert ist?«, fragte Thomas Zahn. »Wer ist die Dame und wer hat sie gefunden?«
»Ich, ich habe sie gefunden. Das ist doch meine Frau.« Der Rest seiner Worte ging in haltlosem Schluchzen unter. Sie würden wohl auf die Ärztin und ein Beruhigungsmittel warten müssen. Der Mann hatte einen Schock, dem war jetzt nichts mehr zu entlocken.
»Wer hat die Polizei gerufen?« Michael Röder schaute sich um.
»Ich«, meldete sich Klaas Bengen unwirsch. »Der Mann hat geschrien. Da bin ich hin. Ich habe dann den Notruf gewählt. Was sollte ich sonst machen?«
»Wissen Sie, wie der Eigner des Bootes heißt?«
Klaas Bengen schaute zu dem Mann, der zusammengesunken auf dem Steg saß. »Nee, weiß ich nicht. Ich habe keinen Anmeldezettel. Obwohl er schon zwei Tage hier ist!« Die Stimme des Hafenaufsehers klang drohend.
»Haben Sie hier sonst noch jemanden gesehen?«, fragte Röder.
»Nein. Außer dem da war sonst keiner hier. Alle weggegangen.« Offenbar in der Annahme, dass er nichts mehr zur Aufklärung beitragen musste, drehte sich der Hafenmeister um und schlurfte davon.
Die beiden Polizisten ließen ihn gewähren, denn in diesem Moment hielt der Krankenwagen in Höhe des Bootshauses. Dr. Ellen Neubert, die Inselärztin, kam mit den beiden Rettungsassistenten über den Steg gelaufen. »Was steht an?«
»Da drin liegt eine Frau«, antwortete Röder. »Blutüberströmt. Ich denke, dass sie tot ist, aber das kannst du sicher besser beurteilen. Kleine Warnung: Es ist kein schöner Anblick …«
Dr. Neubert trat vor die geöffnete Kajütentür und verharrte dort einen Moment. Dann gab sie sich sichtlich einen Ruck. »Ich neige dazu, deine Meinung zu teilen, Michael, aber ich muss mir ein genaues Bild verschaffen.«
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