Ulrike Barow
Baltrumer Bärlauch
Inselkrimi
Ulrike Barow, 1953 in Gütersloh geboren, lebt mit ihrer Familie im schönen Leer (Ostfriesland) und auf der Nordseeinsel Baltrum. Sie ist gelernte Buchhändlerin. Der erste Kurzkrimi Baltrumer Wintermärchen wurde in der Anthologie Inselkrimis (Leda-Verlag, 2006, TB 2010) veröffentlicht. Dort erschienen auch ihre Kriminalromane, die alle auf Baltrum spielen.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © Feelfree_Fotografie/
stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6494-2
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Wenn Inga Tarmstedt gewusst hätte, dass ihrem Stöbern in alten Kunstbänden so viel Unheil folgen würde, wäre sie ganz gewiss im Cafe Scheibner sitzen geblieben und hätte sich ein weiteres ihrer heiß geliebten Buchweizentortenstückchen mit Blaubeeren genehmigt.
So aber saß sie an diesem warmen Tag wie angenagelt in einem der alten Sessel im Worpsweder Antiquariat und blätterte und blätterte. Der nette Antiquar hatte seine Brille auf die Stirn geschoben und einen Band nach dem anderen aus den hohen Regalen gesucht, als sie ihre Wünsche geäußert hatte. Wünsche, die für den Mann tägliches Brot waren. Hier, umgeben von endlos scheinenden Bücherreihen, würde sie mit Gewissheit Informationen über die berühmte Künstlergruppe finden, die vom Ende des vorletzten bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts das Bild dieses Ortes geprägt hatte. Wer sich in Worpswede befand, diesem beschaulichen Ort nahe Bremen, interessierte sich für Namen wie Mackensen, Vogeler, Hoetger, Rilke und Modersohn. Deren Schaffen begegnete man hier, wo Kunsthallen, Galerien und kleine Kunstgewerbegeschäfte auf engstem Raum vereint waren, an jeder Straßenecke.
Wieder nahm Inga einen Kunstband in die Hand. Ein Mädchen mit einem Blumenkranz leuchtete ihr vom Titelbild entgegen, gezeichnet im Profil, mit ausgeprägten Gesichtszügen. Natürlich, Paula Modersohn-Becker, wer sonst konnte dieses Bild gemalt haben? Sie hatte viele Biografien dieser außergewöhnlichen Frau gelesen, die ihr Leben kompromisslos der Kunst untergeordnet hatte, zumindest wenn man den Schreibern glauben durfte. Und so manches Mal hatte Inga darüber nachgedacht, ob auch sie in der Lage wäre, ihren Weg für die Kunst so konsequent zu gehen. Bis jetzt hatte sie noch keine Antwort darauf gefunden.
Sie blätterte weiter bis zu dem Bild einer zwischen zwei Bäumen aufgehängten Leine, an der Wäsche flatterte, vom Wind in der Bewegung getrocknet. Das ist es, dachte sie, das Leben auf dem Dorf in seiner ganzen Einfachheit und zugleich Gesamtheit. Die Landschaft, die Menschen und … – Ihr Atem stockte. Sie hatte die nächste Seite aufgeschlagen, und ihr Blick fiel auf einen Himmel, durchzogen von weißen und grauen Wolkengebilden und widergespiegelt in den kurzen, unruhigen Wellen eines breiten Flusses. In der Mitte des Stromes zwei Segelboote.
Sie las den Namen unter dem Bild. Walter Bertelsmann. Dieser Name war ihr unter den berühmten Worpswedern noch nie aufgefallen.
Lange betrachtete sie das Bild und plötzlich hatte sie das Gefühl, Teil dieser Landschaft zu sein. Sie sah sich am Ufer des Flusses stehen und den Schiffen nachschauen. Kleine Wellen umspielten ihre Füße, und sie spürte den Wind auf ihren Armen.
Inga war beeindruckt. Wenn schon ein kleiner Abdruck in einem Buch so tiefe Gefühle bei ihr hervorrief, wie müsste es dann erst sein, vor einem echten Bertelsmann zu stehen?
»Haben Sie über diesen Maler noch mehr Bücher?«, fragte sie den Antiquar.
»Walter Bertelsmann, warten Sie, ich schau mal eben nach. Soviel ich weiß, gibt es über ihn nicht viel Material, obwohl er in seinem Leben wohl mehr als tausend Bilder gemalt hat.« Nach einem Blick in seinen Computer stand er auf. »Wir haben Glück, ich habe eine Biografie über ihn da, von Thomas Felgendreher. Es ist der einzige ausführliche Band, der über ihn erschienen ist.« Nach kurzem Suchen reichte er Inga das Buch über die Ladentheke.
Inga begann, sich in das Leben des Malers einzulesen, und merkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als der nette Herr hinter der mit Büchern vollgepackten Theke ein paarmal verstohlen auf seine Uhr schaute, klappte sie die Seiten zusammen und sagte fröhlich: »Das nehme ich mit. Danke für Ihre Geduld. Und einen schönen Feierabend wünsche ich Ihnen.«
Mit dem Buch unter dem Arm ging sie zurück zu dem Atelier, das ihr seit fünf Monaten als Zuhause auf Zeit diente.
*
Mit einem Ruck drehte sich Inga um.
»Ich werde hinfahren. Ob die Einwohner dort überhaupt wissen, dass ein begnadeter Künstler unter ihnen gelebt hat? Ich finde es hochinteressant, der Spur dieses Mannes zu folgen. Hier habe ich schon einige Bilder von ihm gefunden, aber ich möchte mehr sehen. Außerdem muss es eine aufregende Erfahrung für Walter Bertelsmann gewesen sein, mitten im Winter auf eine kleine Nordseeinsel zu reisen. Ich wette, er hat dort jede Menge gemalt. Da müssten noch Bilder von ihm zu finden sein. Du siehst, es gibt einen guten Grund, genau dorthin zu fahren. Von Sonnenschein, Strand und Wellen mal ganz zu schweigen.«
Außerdem musste sie sich dringend Gedanken über ihre Zukunft machen, aber das behielt sie für sich. Dieses Thema würde Fynn vermutlich nicht sonderlich interessieren.
Fynn hatte es sich auf ihrem Bett bequem gemacht und schaute sie mit einem ironischen Blinzeln an. »Du weißt, dass dein Stipendium hier noch einen Monat läuft?« Sein Deutsch war fast akzentfrei und so fließend, dass sich nur selten dänische Ausdrücke einschlichen. »Die sehen das nicht gerne, wenn einer ihrer Auserwählten den Ort für längere Zeit verlässt, das solltest du eigentlich wissen, und das Wort ›begnadet‹ könntest du vielleicht auch etwas vorsichtiger verwenden. Außerdem habe ich gerade das Gefühl, dass dein unberechenbares Temperament mal wieder mit dir durchgeht. Der Mann und seine Bilder sind morgen doch auch noch da.«
»Ach, Fynn, du hast ja recht, aber ob ich ein paar Tage mal nicht hier bin, das merken die anderen gar nicht, und mit meiner neuen Skulptur komme ich im Moment sowieso nicht recht voran. Nenne es schöpferische Pause, eine Suche nach unseren künstlerischen Vorgängern, oder einfach eine passende Gelegenheit zum … Ach egal, vergiss es.«
»Hör schon auf, ich kann dich doch nicht zurückhalten.« Sie merkte an Fynns Stimme, wie ihn das Thema nervte. »Aber mecker nicht, wenn es schief geht und die hohen Herren vom Kunstverein dir den Stuhl für deinen schöpferischen Popo vor die Tür setzen.«
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