Er hatte sich so auf Britta gefreut heute. Dann war sie einfach abgetaucht, hatte sich nicht gemeldet, und nun das: ein aggressiver Ex. Hendrik wollte eine richtig nette Beziehung ohne Verpflichtung, Altlasten und dem ganzen Kram.
Nach dem Kaffeestündchen mit Schnucki würde er aber vielleicht doch noch mal in die Halle schauen. Und Kaffeestündchen war auch so gemeint. So und nicht anders. Das war ihm in diesem Moment völlig klar geworden.
Vorsichtig stellte er die Kanne, Milch, Zucker und zwei Becher auf ein Plastiktablett und jonglierte es auf das Nachbarschiff.
»Komm rein, es muss nicht jeder seine neugierigen Blicke auf uns werfen.« Hedda hatte sich während seiner Abwesenheit ein Nichts von einem Top übergeworfen und winkte ihn in die Kajüte.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie hinter ihm die Tür zum Niedergang schloss.
Wolf machte sich auf den Weg zum Ostdorf. Links lag schützend der Deich und rechts von ihm auf den Hellerwiesen genossen einige Pferde ihre Ruhepausen, bevor sie vor den Kutschen wieder ihren Dienst versehen mussten. Zwischen ihnen flogen Möwen, laut kreischend auf der Suche nach Futter. Kurz hinter dem Hotel Dünenschlösschen erreichte er den Friedhof. Er bog ab und öffnete die schwere schmiedeeiserne Tür. Es war für ihn eine gute Tradition, das Grab der alten Familie Kanter zu besuchen. Es befand sich im hinteren Bereich in der Nähe einiger Soldatengräber. Hier lagen die Männer, deren Minensucher vor der Baltrumer Küste auf eine Mine gelaufen und untergegangen war. Alles junge Leute, so hatte man ihm erzählt. Der Gedanke, dass Jannis auch einmal so etwas passieren könnte, verursachte ihm jedes Mal Übelkeit. Seine Familie war ihm wichtiger als alles auf der Welt. Oft genug bekam er in seinem Beruf als Detektiv Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen mit, die er auch seinem ärgsten Feind nicht wünschte. Und schon gar nicht seiner Frau und Jannis.
Er setzte sich auf die kleine Bank und dachte nach. Viel Zeit hatten Anke und er im Alltag nicht zusammen. Aber wenn sie gemeinsam frei hatten, dann nutzten sie diese Stunden, füllten sie mit Leben. Das war nicht immer so gewesen. Vor einigen Jahren hatten sie sich fast auseinandergelebt, aber dann doch noch rechtzeitig die Notbremse gezogen. Was für ein Glück, dachte er, und lächelte, während er aufstand und weiterging.
Im Restaurant Bliev Sitten, oder auch »das letzte Haus vor Langeoog«, wie es der Besitzer Bernhard Ebeling liebevoll nannte, war jeder Platz besetzt. Das war kein Wunder, denn in dem kleinen Gastraum standen nur eine Handvoll Tische. Fröhliches Gemurmel schlug Wolf entgegen, als er eintrat. Das Licht, das durch die breiten Fenster fiel, umflutete die geschmackvolle Tischdekoration.
Eine Speisekarte suchte man hier vergebens. Drei Gerichte gab es täglich, immer wechselnd. Je nachdem, was der Ökohof hinterm Deich in Nesse oder die Netze der Fischerboote in Dornumersiel hergaben.
Dies alles hatte natürlich seinen Preis. Aber für Wolf waren Qualität und Ambiente in diesem Haus unschlagbar. Und das wollte was heißen, war er aus Bremen doch eine ganze Reihe guter Restaurants gewohnt. Dazu kam die Freundlichkeit der Besitzer. Bernhard Ebeling und seine Familie betrieben das Haus in der dritten Generation, und bald würde die vierte das Restaurant übernehmen.
Suchend schaute Wolf sich um. Keine Ebelings weit und breit. Das war noch nie vorgekommen, solange er sich erinnern konnte.
Doch dann konnte er mit einem Blick auf die Schwingtür zur Küche beruhigt aufatmen. Die massige Gestalt des Chefs, angetan mit einer blauen langen Schürze, balancierte drei Teller mit appetitlich angerichteten Seezungen in den Gastraum.
»Ja, ist denn das die Möglichkeit!« Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem breiten Lachen. »Da trudeln alle wieder ein, die mir liebe Gäste sind.«
»Auch wenn du nichts Besseres zu tun hast, als sie auf der Strandmauer über den Haufen zu fahren. Aber das klären wir noch.« Wolf blieb abwartend im Gastraum stehen, während der Wirt mit ein paar freundlichen Worten die Seezungen servierte und dann wieder zu ihm kam.
»Tut mir leid, wir haben dich echt nicht gesehen«, sagte Ebeling. »Das muss ich doch gleich mal Doro erzählen und unser Missgeschick mit einem besonders gelungenen Mittagessen wiedergutmachen. Setz dich eben draußen auf die Holzbank. Gleich wird ein Tisch für dich frei.«
Wolf tat wie ihm geheißen und genoss die Sonne. Sein Alkoholpegel hatte sich inzwischen einigermaßen reduziert, so dass dem Genuss einer exquisiten Mahlzeit nichts im Wege stand.
Zwar hatte er seinem Sprössling ein warmes Abendessen im Hotel Fresena versprochen, aber dem schaute er gelassen entgegen. Heute war Urlaub. Nächste Woche konnte das Fitnessstudio wieder an ihm verdienen.
»Möchtest du auch Seezunge?«, fragte Ebeling. Wolf zuckte zusammen. Er war fast eingenickt. »Oder ist dir das ostfriesische Deichlamm lieber? Als dritte Möglichkeit kann ich dir Spargel mit Norderneyer Seeluftschinken anbieten. Außerdem ist drinnen jetzt ein Tisch für dich frei geworden.«
Wolf folgte seinem Gastgeber und setzte sich an einen der massiven hellen Eichentische, jeder für sich ein Unikat in diesem Gastraum. Von seinem Platz aus hatte er einen herrlichen Blick in die Dünen. Fasane mit ihren halbwüchsigen Küken und Horden von Karnickeln zeigten unbekümmerte Futterlaune und ließen sich auch von den Gästen nicht aus der Ruhe bringen, die manchmal unerlaubt vom Wege abwichen und ihre Fährten kreuzten.
Er hatte Spargel gewählt, und es dauerte nicht lange, bis die weißen Stangen, auf den Punkt gegart, zusammen mit hauchdünn geschnittenem Schinken den Weg zu seinem Platz fanden. Kleine, goldgelbe Kartoffeln und Buttersoße rundeten sein Essen ab. Was kann es Schöneres geben, dachte er, als bei solch einem Wetter auf dieser Insel zu sein, fünfe gerade sein zu lassen und ein perfektes Essen vor sich zu haben?
»Schmeckt es denn?«, hörte Wolf eine dunkle Stimme hinter sich aus Richtung der Küche, und seine Rückenmuskeln zogen sich wie unter einem leichten Elektroschock zusammen. Diese Stimme konnte nur Doro Ebeling gehören, dunkel und heiser von unzähligen braunen Stumpen, die sie zu jeder Tageszeit in ihrer Nähe liegen hatte und mit Genuss rauchte. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er wegen genau dieser Stimme den langen Weg ins Ostdorf auf sich genommen hatte.
Gut, nicht nur dieser Stimme wegen. Auch Bernhard war ein Supertyp, das Essen einfach genial und die Einrichtung wunderschön. Ach ja, natürlich auch der Blick in die Dünen. Aber das i-Tüpfelchen war eben diese verqualmte, erotische, Wunder versprechende Stimme von Doro Ebeling.
Wolf versuchte gleichzeitig, die Spargelstange herunterzuwürgen, die sich zur Hälfte in seinem Mund befand, die Freude in seinem Gesicht in einigermaßen neutrale Bahnen zu lenken und das Wasserglas abzustellen. So ziemlich alles ging bei diesem Versuch gründlich in und auf die Hose. Dass Doro Ebelings maßloses, unbändiges Lachen einzig und allein seinem Missgeschick galt, machte die Situation nicht besser.
»Nun pass mal auf, dass du dich nicht auch noch verschluckst, sonst hätten wir dich heute bereits zum zweiten Mal auf dem Gewissen, und das ist nicht gut fürs Image.« In ihren grünen, von Lachfalten und von einem dicken schwarzen Kajalstrich eingerahmten Augen blitzte der Schalk. »Wir haben im Rathaus unsere Personalausweise und Pässe verlängern lassen. Warum, erzähle ich dir gleich. Dann dachten wir, wir tun etwas ganz Verruchtes und fahren mit unseren Rädern verbotenerweise über die Strandmauer nach Hause.« Doro Ebeling lachte. »Wir haben die ganze Zeit gehofft, dass der Inselsheriff uns nicht erwischt, und damit waren wir so beschäftigt, dass wir nichts anderes mehr im Blick hatten. Und wenn es dich getroffen hätte, hätte ich mir das natürlich niemals verzeihen können.« Ihre Stimmlage hatte sich um mindestens eine Oktave gesenkt und ihre Augen schienen sich in seinen zu verlieren.
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